XI.
Naturalistische und idealistische
Gesellschaftslehre
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Überblicken wir die Geistesgeschichte, so finden wir in ihr überall
den uralten Kampf zwischen einer naturalistischen Betrachtung der
gesellschaftlichen Angelegenheiten und einer idealistischen Betrach-
tung. Das Wort „naturalistisch“ verstehen wir hier im weitesten
Sinne, so daß es jede Art von Empirismus, Relativismus, Positivis-
mus, Nominalismus, Materialismus in sich schließt; ebenso verstehen
wir das Wort „idealistisch“ im weitesten Sinne, so daß es jede Lehre
umfaßt, die auf „Ideen“ als auf ein Übersinnliches zurückgeht, sei
es nun in Platonischem und Aristotelischem Sinne, sei es im Kan-
tischen Sinne (subjektiver Apriorismus) oder im nachkantischen
Sinne.
Wir finden die idealistische Gesellschafts- und Staatslehre bei
P y t h a g o r a s , P l a t o n , A r i s t o t e l e s und ihren Schulen
im Altertum und Mittelalter; wir finden sie bei den Scholastikern im
Mittelalter; wir finden sie bei den nachkantischen deutschen Ideali-
sten und den Romantikern, bei A d a m M ü l l e r , F r i e d r i c h
S c h l e g e l u n d G ö r r e s , b e i F i c h t e , S c h e l l i n g , H e -
g e l , B a a d e r , K r a u s e u n d S c h l e i e r m a c h e r .
Wir finden in entsprechender Weise die naturalistische Gesell-
schafts- und Staatslehre bei den Sophisten des Altertums und den
ihnen verwandten späteren Schulen, wie z. B. den Epikuräern. In
dem tief religiösen Mittelalter dagegen kann eine empiristische Phi-
losophie ebensowenig aufkommen wie eine empiristische Gesell-
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Zuerst erschienen in: Festschrift für P. Wilhelm Schmidt, St. Gabriel, Mödling
bei Wien 1928, S. 227 ff.