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und Farbe überall fast unumschränkt herrschten, besonders seit dem
Sturze Hegels in den siebziger und neunziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts, so fest eingewurzelt, daß auch heute die Bildung da-
von noch erfüllt ist.
Wollte man aber vielleicht einwenden, daß die neuzeitliche So-
ziologie eine „Erfahrungswissenschaft“ sei, die frühere Gesellschafts-
lehre dagegen spekulativ gewesen sei, so wäre dieser Einwand lange
nicht stichhaltig. Denn die Gesellschaftslehre des A r i s t o t e l e s
war, wie bekannt, durchaus auf Erfahrung ausgerichtet, was unter
anderem seine Sammlung von Verfassungen beweist. Anderseits
darf man mit Recht sagen, daß die Gesellschaftslehre C o m t e s und
seiner Schüler nicht minder spekulativ ist als jene P l a t o n s —
nur in unendlich naiverer Weise, weil sie sich ihrer spekulativen
Grundlagen — Materialismus, Empirismus, Individualismus —
n i c h t k l a r b e w u ß t ist. Übrigens steht es ganz ähnlich mit
der Seelenlehre. Sollte man sagen, daß es erst in der neuesten Zeit
eine Seelenlehre gibt, weil erst diese, die sogenannte „empirische
Psychologie“, sich auf Erfahrung gründen will? Diese Behauptung
würde gewiß niemand wagen. Es ist allseits anerkannt, daß schon
bei A r i s t o t e l e s eine systematische Seelenlehre da ist.
Es darf als ein besonderes Verdienst des Gefeierten dieser Fest-
schrift, P. Wilhelm S c h m i d t s , bezeichnet werden, daß er im
Verein mit G r ä b n e r , K o p p e r s und anderen die Völker-
kunde gerade nicht, wie bisher zumeist, als eine „reine“ Erfahrungs-
wissenschaft behandelte, sondern die Anknüpfung an die / Gesell-
schaftslehre planmäßig suchte. Dies geschah bei Schmidt vornehmlich
in Form einer Abwehr, nämlich in der richtigen Erkenntnis, daß es
gelte, die Gesichtspunkte der darwinistisch-evolutionistischen Ge-
sellschaftslehre in der Völkerkunde zu überwinden
1
. Aber zweifellos
bedarf es nicht nur einer Abwehr naturalistischer Grundsätze, es
bedarf auch einer aufbauenden Anknüpfung an die Grundsätze der
nicht-evolutionistischen, das ist der idealistischen Gesellschaftslehre.
1
P. Wilhelm Schmidt und Wilhelm Koppers: Völker und Kulturen, I. Teil, Re-
gensburg 1925, S. 136 ff. Wenn diese Abwehr nicht überall ganz durchgeführt
wurde, z. B. gegenüber der Comte’schen Soziologie, so sind dies Übergangs-
erscheinungen, die nur davon zeugen, daß den Verfassern die Umstellung nicht
mit einem Schlage gelang.