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hergehen; sie übersieht in systematischer Hinsicht, daß alle die ver-
schiedenen Erscheinungen, die man unter Imperialismus zusammen-
faßt, keine einfachen Grunderscheinungen gesellschaftlichen und staat-
lichen Lebens sind, sondern schon sehr vielartige und zusammen-
gesetzte Folgeerscheinungen! Wer z. B. über „wirtschaftlichen“ Im-
perialismus spricht, möge sich doch zuerst einmal über Freihandel und
Schutzzoll, über freie und gebundene Verkehrswirtschaft und über die
Malthusische Bevölkerungslehre klar werden — erst auf dieser
Grundlage kann er die Erscheinungen des K a m p f e s , die er als
„imperialistische Erscheinungen“ zusammenfaßt, beurteilen. Dann
wird sich aber immer der Streit weniger um die gefolgerten End-
urteile als um die ersten Grundurteile (Wesen der Verkehrswirtschaft,
individualistische oder universalistische Wirtschaftserklärung, Frei-
handel, Bevölkerung) drehen. Ganz allgemein gesagt: Wenn sich der
Gesellschaftsforscher die verschiedenen Erscheinungen, die man (in
jeder Wortbedeutung) unter „Imperialismus“ zusammenfaßt, ernst-
haft als Gegensatz vorlegt, so findet er, daß sie zuletzt immer auf
die Frage zurückführen: Ist der Kampf im gesellschaftlichen Leben
der Einzelnen, ferner zwischen Staaten, zwischen Volkstümern, zwi-
schen Volkswirtschaften wesensnotwendig oder nicht, und welche ge-
sellschaftliche Natur hat der Kampf überhaupt, sowie die aus ihm
sich ergebenden Folgeerscheinungen der Herrschaft, der Unter- und
Überordnung, Unterwerfung, Ausdehnung, dann besonders: des
Krieges? Aber auch Kampf (mit den Folgen Herrschaft und Krieg)
zeigt sich noch nicht als letztes Einfaches, sondern die Grunderschei-
nung, auf die er und seine Folgen zurückgehen, ist die U n g l e i c h -
h e i t der Einzelnen sowohl wie der Gesamtheiten (Volkstum, Volks-
wirtschaft, Staat), so daß die Erscheinung von Gleichheit und Un-
gleichheit, und von da aus wieder das Wesen der Gesamtheiten —
das heißt das Problem Individualismus: Universalismus! — als die
letzten Grunderscheinungen und Grundfragen Zurückbleiben, um die
es sich beim Imperialismus handelt.
Statt auf diese Fragen zurückzugreifen, wird ihre Lösung in den
zahlreichen Schriften über Imperialismus fast ausnahmslos schon still-
schweigend vorausgesetzt. Über tiefgründige Theorien wie Schutz-
zoll und „Merkantilismus“ sind die allermeisten zugunsten des Frei-
handels von Anbeginn erhaben, ebenso gehen die meisten Verfasser
mit der feststehenden Forderung des Weltfriedens, das heißt des Pazi-