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man vergaß, daß man sich nur auf dem Vorfelde der Geschichte
bewegte. Was nur Vorarbeit sein sollte, ist dann zur Hauptsache
geworden. Den großen „synthetischen“ Aufgaben der Geschichts-
schreibung ging man scheu aus dem Wege, daher das Hausbackene
und angeblich „Gußeiserne“ dieser „unparteiischen“ und „objek-
tiven“, in Wahrheit liberalen und materialistischen Geschichtsschrei-
bung.
Ebenso übernahm man von der Naturwissenschaft den mechani-
schen Entwicklungsbegriff, den „Evolutionismus“. Die Entwick-
lungsmechanik Marxens z. B., die einen so großen Einfluß auch auf
die sogenannten bürgerlichen Geschichtsschreiber ausübte, ist nichts
anderes als eine Übertragung des Darwinismus auf die Geschichte, wie
andererseits der Darwinismus gekennzeichnet werden kann als eine
Übertragung der atomistisch-mechanischen Gesellschaftsbetrachtung
von Adam Smith und Robert Malthus auf die Natur. Damit kom-
men wir auf die individualistische Spielart der mechanischen Ge-
schichtsbetrachtung.
2. Die individualistische Auffassung
Individualismus und Atomismus entsprechen einander.
Nach der individualistischen Auffassung besteht die Gesellschaft
aus in sich beruhenden Einzelnen, deren Zusammentreffen, deren
nachträgliche „Wechselwirkung“ den gesellschaftlich-geschichtlichen
Vorgang ausmacht. Die Gesamtgeschichte wäre ihr nur eine Summe
der Geschichte der Einzelnen! Folgerichtig müßten die Lebens-
geschichten (Biographien) allein übrig bleiben. Zu dieser Folgerung
getraute man sich allerdings kaum vorzustoßen, da sie den Erforder-
nissen der wirklichen Geschichtsschreibung allzusehr widersprach.
Aber die Bestrebungen der / Aufklärung, ..Kulturgeschichte“, ja
später „Wirtschaftsgeschichte“ (Marx) an die Stelle der bisher herr-
schenden Staatengeschichte treten zu lassen, wiesen bereits auf eine
Auflösung der Geschichte geschlossener Gesamtganzheiten hin.
3. Die rationalistische Auffassung
Der Individualismus führt nicht nur zur mechanischen, sondern
auch zur rationalistischen Auffassung des Geschehens. Daher ist die