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Gesamtzusammenhang des Geschehens ist nicht davon abhängig,
daß ihn die Wissenschaft erkennt.
Der Einheitszusammenhang des Sinnvollen in der Geschichte ist
unerläßlich, aber nicht unerläßlich ist seine Unversehrtheit. Der
Werdegang kann auch nach abwärts führen, er muß nicht unbedingt
nach aufwärts führen, er kann auch negative, er muß nicht un-
bedingt überall positive Vorzeichen haben. Es / gibt Störung, Ver-
fall, Niedergang in der Geschichte, ebenso wie auch das einzelne
Menschenleben scheitern kann.
Daß mit dem Begriffe des „Sinnvollen“ noch andere Fragen verbunden sind,
nämlich die Frage des „ W e r t e n s “ o d e r d e r „ G e l t u n g “ und des
Gegensatzes von „ S e i n u n d S o l l e n “ , damit ferner die Frage nach der
Möglichkeit der „Verwirklichung eines Gesollten“ oder der sogenannten W e r t -
v e r w i r k l i c h u n g — die Fragen der neukantischen Schulen — sei hier nur
vorläufig angemerkt. Wir werden ihnen später wieder begegnen
1
.
C.
F r e i h e i t : G e s c h i c h t e i s t , w a s a u s d e r V e r -
g a n g e n h e i t n i c h t v o l l s t ä n d i g e r k l ä r t
w e r d e n k a n n
Im notwendigen „Ablauf“ ist, wie sich schon ergab, weder das
Vergangene gegenwärtig, noch der Fortschreitungsgang sinnbezogen.
Daher ist der Ablauf geschichtslos. Es kann nur das Geschichte sein,
was nicht Ablauf ist. Anders gewendet: Ablauf vollzieht sich nach
eindeutig wirksamen Bedingungen, nämlich mechanisch, sinnfrei.
Wollen wir aber zur Geschichte als einem Sinnvollen kommen,
so müssen wir sagen: Geschichte kann aus dem, was war, nicht
vollständig erklärt werden.
Vor diesem Satze werden die meisten Geschichtsschreiber von
heute zurückschrecken, wollen sie doch überall die „geschichtlichen
Bedingungen" auf zeigen. Aber gerade das ist nicht möglich. Die
Geschichtsschreibung würde sich dann in soziale „Physik“ ver-
wandeln.
Um Geschichte zu treiben, muß man den Mut zum Geiste haben.
Man muß sich darüber klar sein, daß Erhebung des Geistes über
die stofflichen Vorbedingungen und die anderen Bestimmtheiten
des Geschehens zu seinem Wesen gehört. Diese Erhebung, dieser
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Vgl. unten S. 118 ff., 147 ff. und öfter.