[74/75]
69
Aufklärung, wie sich zeigte, mechanisch, individualistisch und ratio-
nalistisch zugleich. Für den naturwissenschaftlichen Standpunkt liegt
das Rationalistische in den Naturgesetzen. Die mathematisch-me-
chanisch bestimmten, eindeutig wirkenden „Naturgesetze“ bleiben
als die einzige r a t i o , das heißt als das A l l g e m e i n e der Na-
tur übrig. Die Naturgesetze treten gewissermaßen an die Stelle der
Platonischen Ideen (wie man sich ja von neukantischer Seite aus in
der Tat nicht scheute, die Platonischen Ideen zu Naturgesetzen
herabzumindern). — Die Naturgesetze selbst sind aber wieder ge-
schichtslos. Die einzelnen Ereignisse sind nur Sonderfälle (Subsump-
tionen) des Naturgesetzes. Das Fallgesetz ist das Wirksame, die ihm
zu subsumierenden Ereignisse des Niederfallens sind nur seine Aus-
wirkungen.
„Rationalismus“, das ist nun klar, ist diese Auffassung insofern,
als sie nur strenge Allgemeingesetzlichkeit gelten läßt und ein „Irra-
tionales“ (Freies, Sinnvolles, Ungesetzhaftes) ausschließt, als den
Forderungen der Vernunft widerstreitend. Denn nur die Eindeu-
tigkeit des naturgesetzlich bestimmten Geschehens wurde von der
Aufklärung und ihren Nachfolgern als mit den Forderungen der
Vernunft übereinstimmend gefunden.
Wie immer man den naturwissenschaftlichen Standpunkt betrach-
tet, ob von der mathematisch-mechanischen und biologischen Seite,
ob von der atomistisch-individualistischen Seite, ob von der ratio-
nalistischen Seite —stets erweist sich von ihm / aus der Begriff der
Geschichte als unvollziehbar. Die letzte Grundlage des naturwissen-
schaftlichen Standpunktes und seiner Verfahrenlehre ist Materialis-
mus. Wird das Gesamtgeschehen in Natur und Menschheit materia-
listisch aufgefaßt, dann gibt es folgerichtig nur Berechnungen, keine
Geschichte. Daher steht der materialistischen Geschichtslehre die gei-
stige entgegen.
IV.
Das Wesen des geschichtlichen Geschehens: Umgliederung
einer Ganzheit
Soll Geschichtsschreibung überhaupt möglich werden, so darf es
kein stoffliches, kein bloß naturhaftes, es muß ein geistiges Gesche-
hen sein, das ihr in der Geschichte entgegentritt.