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III. Vollkommenheit und Unvollkommenheit, Sein und Sollen
Lehrsatz 2: Umgliederung unterscheidet sich in allen Weisen nach
Vollkommenheit und Unvollkommenheit
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Alle Umgliederung und die aus ihr abgeleiteten Seinsweisen (Ka-
tegorien) erscheinen entweder in reiner, wesensgemäßer, das heißt
vollkommener, oder in wesenswidriger, das heißt unvollkommener,
entstellter Gestalt. Daher unterscheiden sich alle Weisen der Um-
gliederung jeweils nach Vollkommenheit und Unvollkommenheit.
Unvollkommenheit ist demnach nicht in demselben Sinne eine selb-
ständige Weise (Kategorie) wie die Umgliederung und ihre abgelei-
teten Weisen; sondern sie ist nur eine Abwandlung, eine Abart, die
bei allen Weisen der Umgliederung vorkommt und sie begleitet.
Daß es Vollkommenheit und Unvollkommenheit überhaupt gibt,
ist eine Urtatsache, welche die Kategorienlehre nicht zu erklären,
sondern zu zergliedern hat. In der Geschichte tritt uns die Unvoll-
kommenheit als eine durchaus allgemeine, jedem Punkt der ge-
schichtlichen Wirklichkeit anhaftende Erfahrung entgegen, als ein
Ausfall, als Brüchigkeit alles dessen, was da geschieht unter der
Sonne. Absolute Vollkommenheit gibt es in keiner Wirklichkeit, in
keiner Tat der Geschichte. Das, was man in so vielen Formen be-
klagt, das Unzulängliche in der Welt, das Böse, das Unglück, den
Krieg, Vergänglichkeit, Leiden und Tod, all das ist nun einmal
schlechthin vorhanden und im Natürlichen nicht überwindlich. Die
Unvollkommenheit ist unbesiegbar, denn sonst müßte der Mensch
auch den Tod überwinden können. Man / muß geradezu von der
U n e r s c h w i n g l i c h k e i t d e s V o l l k o m m e n e n spre-
chen. Weder ist das Heilige hiernieden fleckenlos, noch die Wahr-
heit ungetrübt, noch die Schönheit unversehrt, noch die lebendige
Wahrheit ungetrübt, noch der lebendige Organismus durch und
durch gesund.
Nach der Weise der Ganzheit stellt sich die Vollkommenheit als
R e i n a u s g l i e d e r u n g u n d R e i n u m g l i e d e r u n g , d i e
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Die Lehre von Vollkommenheit und Unvollkommenheit, Sein und Sollen,
ist ebenfalls bereits in meiner „Kategorienlehre“ entwickelt worden. Darum
mag auch hier die kürzeste Darstellung genügen. Vgl. mein Buch: Kategorien-
lehre (1924), 2. Aufl., Jena 1939, S. 104 ff. und 371 ff. [3. Aufl., Graz 1969,
S. 101 ff. und 335 ff.].