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nie völlig erreicht werden. Wir haben das schon früher die U n e r -

s c h w i n g l i c h k e i t des Vollkommenen genannt. Mag auch das

F a s t - V o l l k o m m e n e manchmal erreicht werden, die reine

Wahrheit, die reine Schönheit, die ungetrübte Vollkommenheit in

der Kultur, Religion, Staatlichkeit, auch die schlechthin vollständige

Gesundheit ist in der Geschichte nie anzutreffen. Daher ist diese

Reihe nur eine „gesollte“, eine / ideelle Reihe und steht insofern

im Gegensatz zum tatsächlichen, stets fehlerhaften Sein.

Die zweite Spalte, die Reihe tatsächlicher Setzungen, besteht

durchaus aus solchen Setzungen, die ihre reine Gliedhaftigkeit ent-

weder nicht erreichten oder überschritten, so daß die Fehlumglie-

derungen entweder auf Uberwucherungen oder Verkümmerungen

beruhen. In der Geschichte finden wir überall, auch in den größten

Zeiten und Männern Übertreibung oder Unzulänglichkeit, so daß

sich Fehlschritte, Irrtümer, Abschweifungen vom rechten Wege oder

gar Verfall und Verderbnis ergeben. Das ist die Grundtatsache.

Darum kann der Geschichtsschreiber seine Aufgabe nur erfüllen

w e n n e r d i e F e h l e r a u c h a l s F e h l e r e r k e n n t .

Ein Geschichtsschreiber, der nicht die Kraft und den Mut hat, zu

sagen: das war falsch, schreibt nicht Geschichte. Denn von Fehlern

und Irrtümern ist die Geschichte voll. Wer weiß das besser als

gerade unsere Zeit, eine Zeit der Not, der Zusammenbrüche, des

Schreies nach Rettung und der versäumten Gelegenheiten.

Die dritte Spalte der obigen Übersicht will deutlich machen, daß

alle Versuche der Verbesserung, Erneuerung, Wiederherstellung,

Wiedervervollkommnung, von denen ebenfalls die Geschichte er-

füllt ist, die grundsätzliche Folge des Umstandes sind, daß alle tat-

sächlichen Setzungen schon Fehlsetzungen sind. Da alles Fehler

macht, müssen sie wieder verbessert werden, da niemand ganz ge-

sund ist, tut jeder etwas für seine Gesundheit: er will dem Gifte

durch Gegengift entgegentreten. Das Wort „Gegengift“ bezeichnet

das Gepräge dieser neuen Reihe. Aber die Erneuerungen sind not-

wendig selber wieder brüchig. Warum essen wir nicht Arzneien als

Mittagessen? Weil Arznei selbst Gift ist und nur nach Maßgabe des

schon in uns vorhandenen Verfalls- und Krankheitsstoffes als Ge-

gengift wirken soll. Daher sind die Wiederherstellungs- und Erneue-

rungsbestrebungen geschichtlich n o t w e n d i g mit inneren Schä-

den behaftet. Dem / „Zug“ muß, da er unvollkommen ausfiel,