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vismus hinauslaufe. Der Geschichtsschreiber kann sich für seine Zeit
erklären oder aber gegen das, was in seiner Zeit / herrscht. Er kann
aber auch einen Standpunkt einnehmen, der in die Vergangenheit
zurück und in die Zukunft vorwärts weist. Die Entscheidung, der
er nicht ausweichen kann, liegt, wie gesagt, in der Zergliederung
der höchsten Ganzheitszusammenhänge der Gesellschaft. Freilich
folgt daraus, daß ein großer Geschichtsschreiber, ein Mann, der die
Höhe des Geistes erklimmt, zu den ebenso großen oder noch grö-
ßeren Seltenheiten gehört, wie die systembildenden Philosophen.
Der kleine Mann tut gut, sich um so mehr an die Urkundenkritik
zu halten.
An unserem Ergebnisse, daß der Maßstab des Geschichtsschreibers
im Aus- und Umgliederungsgehalte der Ganzheiten selbst seine
Grundlage findet, bestätigt sich der frühere Befund unserer Be-
griffsbildungslehre: daß ein letzter grundsätzlicher Unterschied zwi-
schen Geschichtsschreibung und systematisch-analytischer Geistes-
wissenschaft nicht besteht. Das ließe sich auch im einzelnen leicht
zeigen. Das „größte Glück der größten Zahl“ z. B. ist ein Ergebnis
theoretisch-systematischer Gesellschaftszergliederung
1
(also einer
Ganzheitsuntersuchung); aber einmal begründet, ist es der Maßstab
des Geschichtsschreibers, nämlich des aufklärerischen.
Was von der Geschichtsschreibung, die heute im engeren Sinn so
genannt wird, hier gesagt wurde, gilt also auch von jeder systemati-
schen Geisteswissenschaft, insbesondere für die Gesellschaftslehre, die
Volkswirtschaftslehre, die Staatslehre usw., denn nicht nur die Dar-
stellung der Umgliederung einer Ganzheit — die Geschichte —,
auch jene ihrer Ausgliederung — die analytische Theorie — ist nicht
möglich ohne „Maßstäbe“ für das der jeweiligen Ganzheit sinnge-
mäß Wesentliche. Und diese Maßstäbe liegen, wie gesagt, im Sach-
gehalte der jeweiligen Ganzheiten selbst. Denn nur er lehrt uns die
Sacherfordernisse der Ausgliederung und Umgliederung verstehen.
Wenn z. B. für das Heer vom Siege, für die Wirtschaft vom Gelde,
für / den Staat von der Herrschergewalt geredet wird, so ist der
Begriff des Sieges, des Geldes, der Herrschergewalt offenkundig
nur durch Wertmaßstäbe feststellbar, welche aus den Wesenserfor-
1
Vgl. mein Buch: Gesellschaftslehre (1914), 3. Aufl., Leipzig 1930, S. 174 ff.
[4. Aufl., Graz 1969, S. 213 ff.].