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um den K a i r ó s des einen oder andern. K a n t ist als Gründer
und Stifter des gesamten deutschen Idealismus zu betrachten, aber
Schelling, Hegel (namentlich als Systematiker), auch Baader, Fichte,
Novalis waren ihm an schöpferischer Begabung überlegen. Die Stel-
lung des Gründers konnte nicht der Begabteste in der Reihe erhal-
ten, sondern derjenige, der im Kampfe gegen den Empirismus die
ersten entscheidenden, zeitgerechten Schritte dadurch tat, daß er
Gedanken aussprach, die wirkten. Diese Stellung hätte Leibniz ha-
ben können, wenn er dem Kampfe gegen den Empirismus, den er
durchaus siegreich führte, auch noch eine solche Begründung des
Nicht-Empirismus hinzugefügt hätte, auf der Spätere aufbauen
konnten. Kanten fiel es daher zu, jenen Kampf nicht nur auszu-
kämpfen, sondern auch durch Begründung des Apriorismus zugleich
den Anfang für den subjektiven und objektiven Idealismus zu
machen. Daher war Fichte, waren Schelling und Hegel, waren die
gesamten Romantiker Fortsetzer Kantens in dem unbedingt zutref-
fenden Sinne, daß sie als Spätergekommene das von ihm begonnene
Werk zu vollenden hatten, mochte die Vollendung auch neue Rich-
tungen einschlagen, die metaphysische bei Fichte und Schelling, die
logische und ableitend-entwerfende bei Hegel, die theosophische bei
Baader, die magische bei Novalis.
Es ist unschwer zu erkennen, daß sich die gesamte Geschichte des Geistes und
des Handelns wie als eine Aufeinanderfolge von Gründungen und Entfaltungen,
so auch von Stiftern und Fortbildnern erweist.
In der S t a a t e n g e s c h i c h t e möge Alexander der Große und die ihn
fortsetzenden, aber freilich nicht vollendenden, sondern zum Teil auch sein Werk
verderbenden „Diadochen“ (das heißt Nachfolger) seiner verschiedenen Reichs-
teile ein Beispiel bilden. In der W i s s e n s c h a f t s g e s c h i c h t e zeigt sich
Gründung und Entfaltung darin, daß ein neuer Gedanke, ein neues Verfahren,
eine neue Fragestellung, einmal gefunden, erst entsprechend ver- / arbeitet wer-
den muß, bevor die Entwicklung weitergehen kann; in der E r f i n d u n g s -
g e s c h i c h t e liegt es klar am Tage, daß z. B. der Gedanke der Dampf-
maschine, des Explosionsmotors, der Werkzeugmaschine, einmal gefunden, erst
der Verarbeitung bedarf. In der S t i l g e s c h i c h t e der Künste zeigt sich
ebenfalls Gründung und Entfaltung, Meisterschaft und Schülerschaft (wobei der
Schüler ebenfalls begabter sein kann als der Meister), aber meistens geht hier
die Umbildung des alten Stiles in den neuen so langsam vor sich, daß von einer
die alte Entwicklung im eigentlichen Sinne abbrechenden Gründungstat gesun-
derweise nicht gesprochen werden kann. (Eine Ausnahme davon machen natürlich
die neueren naturalistischen Künstler, deren Gründungen aber auch darnach sind,
nämlich Werke der Selbstzerstörung und des Selbstbetrugs.)
Wir sagten, daß die Eigenschaft, entweder Stifter oder Fortsetzer
zu sein, mehr noch als von der Begabung von der geschichtlichen