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Gangart, den geschichtlichen Rhythmus oder, wie wir sagen wollen,
das innere Zeitmaß, zurückführen muß. Die Geschwindigkeit der
Bewegung in der Geschichte, das geschichtliche Zeitmaß darf man
nicht nach dem Physikalischen messen, wo z. B. die Zeitdauer des
Sekundenpendels oder des Jahrumlaufes der Gestirne immer gleich
bleibt, mögen auch diese Jahresumschwünge äußerlich die geschicht-
liche Zeitrechnung begründen. In Wahrheit gibt es doch neben
dieser Zeitrechnung, welche rein rechnerisch nach Jahren mißt und
daher eine Staatengründung als „im Jahre X“ erfolgt bezeichnet
eine andere, wahrhaft geschichtliche Zeitrechnung. Es ist die nach
dem inneren Zeitmaße der Gründungen und Entfaltungen aller
Ganzheiten und daraus hervorgehenden Zeitabschnitten. Die fran-
zösische Revolution z. B. war eine Gründung und Entfaltung von
wenigen Kalenderjahren, aber sie beschloß dennoch in sich ein
eigenes Zeitalter und bildete die Grundlage für alle folgenden, sie
weiter entfaltenden Zeiten bis heute!
Ist nun der Rhythmus der Geschichte nicht durch Gestirnjahre,
sondern durch jene Zeitdauern und inneren Gangarten, wie sie im
Umgliederungsverlaufe der Gründungen und Entfaltungen gegeben
sind, beschlossen, so hat er vielmehr ein künstlerisches Maß. Im
Reigen der Geschichte wechseln stürmische und gemächliche, kurze
und lange Maße, Zeiten der Flut und der Ebbe, miteinander ab.
Für das Leben des Einzelnen wie für die Geschichte gilt, daß die
schnell sich drängende Fülle der Ereignisse die Zeit zusammenpreßt,
während die geschehnislose Zeit sich ins Übermäßige ausdehnt. Es
ist das Paradoxon der Zeit, daß sie bei vielem, heißem Geschehen
kurz, bei wenigem Geschehen lang ist. Umstürze, Kriege, Kämpfe,
Neuordnungen im staatlichen Leben, Abtrünnigkeiten, neue Leh-
ren, neue Schöpfungen im geistigen Leben geben den Gründungen
und Entfaltungen einen schnellen Herzschlag. — Es ist nach allem
Früheren klar ersichtlich, daß es z u l e t z t d i e E i n g e b u n g
d e r g r o ß e n M ä n n e r i s t , / d i e H e r z s c h l a g u n d
Z e i t m a ß d e r G e s c h i c h t e b e s t i m m t . Denn von ihren
Ideen, der Einfügung derselben in das Geistes- und Anstaltsleben,
ihren Kämpfen mit der trägen Masse und dem Unholdentum, den
Brüchen und Spannungen, die daraus folgen, geht alle geschichtliche
Bewegung aus.