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zwei Pole: Tat, Selbständigkeit, F r e i h e i t s g e b r a u c h einerseits; H i n -
g a b e , Ergebenheit andrerseits, mit dem Bewußtsein der Fruchtbarkeit des
Leidens, dem Bewußtsein der höheren Gerechtigkeit des Schicksals. So auch die
Ganzheiten, denn es besteht ein Verhängnis, aber das Verhängnis ist nicht blind,
sondern metaphysisch verwurzelt. — Die äußeren Geburts- und Lebensumstände
sind selbst noch kein Schicksal, sondern Vorbedingungen einer Schicksalsge-
staltung, die uns selbst gehört.
Die W e i s s a g u n g (Prophetie) bezieht sich meistens nur auf äußere Le-
bensumstände, die also nicht selbst der Inbegriff des Schicksals sind, sondern erst
der Ausgangspunkt der eigenen Schicksalsformung sind, die also von unserem
freien Willen abhängt. Bei vielen Menschen ist aber dieser freie Wille so schwach
entwickelt, das Leben so unbewußt, daß das kommende Tun verhältnismäßig
festgelegt erscheint; so daß auch aus diesem Grunde manche Vorschau erklärlich
ist, ohne die Freiheit des Willens selbst zu vernichten. — Wichtiger noch ist die
Überlegung: daß gerade die größten, bedeutungsvollsten Entscheidungen im
Leben halb „instinktiv“ / getroffen werden, daß gerade in ihnen Gründe mit-
wirken, die man sich selbst nicht vollkommen klar machen kann, die wie aus
tieferen Hintergründen wirken. Gerade dieses Traumhafte, Nachtwandlerische,
von dem man fortgerissen wird und gegen das man sich nicht sträuben will —
gerade das ist das Schicksal, ist das Wirken einer höheren Macht. D i e s e
„ h ö h e r e M a c h t “ i s t d a s w a h r e , v e r b o r g e n e I c h , d a s
e i g e n t l i c h e W e s e n d e s M e n s c h e n s e l b s t .
Beispiel einer durchaus schicksalhaften Persönlichkeit ist Novalis. Wie das
Graberlebnis sein Schicksal wurde, so er das Schicksal der Romantik. Zuerst als
die entscheidend treibende Kraft der jungen Jenenser Romantik (die ihm auch
die Entdeckung der Geschichte verdankt); dann zu früh abberufen, um sich
selbst und sein Werk vollenden zu können. Ohne ihn mußte die urtümliche
Kraft der romantischen Bewegung langsam versiegen und sich umbilden. „Ich
soll hier nichts erreichen“; „ich soll hier nicht vollendet werden“ — schrieb er
von sich in seine Tagebücher. Das gilt aber nicht nur von ihm persönlich, es
gilt auch von jener großen Zeitbewegung, die in ihren verborgensten Wurzeln
vornehmlich sein Werk war, der Romantik.
Schicksal, „Vorsehung“ also, das wiederholen wir immer wieder, ist etwas
ganz anderes als „mechanische Entwicklung“, „determinierte Entwicklung“, „me-
chanisch bestimmte Determination“. Gleichwie der Dichter im Drama jeden
Einzelnen seinem Charakter, seiner eigensten Natur folgen läßt und gerade da-
durch den Plan des Dramas, das Ganze der Handlung zur Vollendung bringt,
so auch die Vorsehung, die nicht dadurch wirkt, daß sie die Einzelnen von
außen her stößt und zwingt, sondern durch Begabung, Eingebung, Charakter,
Instinkt. — Stören die Rassen, Völker, Einzelnen durch Fehlgebrauch das Ganze,
dann wird auch der Plan der Vorsehung gestört.
Die M e n s c h h e i t k a n n n i c h t o h n e F ü h r u n g g e d a c h t
w e r d e n . Wohin würde sich die Geschichte verirren, hätte sie nicht die Füh-
rung, die aus Eingebungen, durch Religion, Kunst, Wissenschaft, Sittlichkeit hin-
durch mittels der großen Männer wirkt? Dem heutigen mechanistischen Denken
erscheint das wie Schwärmerei.. Aber wir sagen umgekehrt: Anders den Gang
der Kultur zu denken, muß der gründlichen Überlegung unhaltbar, ja wie
Wahnsinn erscheinen. Man kann darüber streiten, wo jeweils in Geschichte und
Gegenwart die richtige Eingebung, die richtige Führung sei; aber man kann
nicht darüber streiten, daß sie allein es ist, welche der Geschichte die Richtung