314
[364/365]
F r e i h e i t u n d G e r i c h t der Geschichte hängen zusam-
men. Das Gliedhafte der Freiheit erklärt uns auch ihren Fehlge-
brauch. Ist dem Gliede Freiheit gegeben, so kann es diese Freiheit
zweifellos auch ganzheitswidrig gebrauchen. Aber damit straft es,
vernichtet es sich selbst, und zwar genauso weit, als es den Fehl-
gebrauch treibt. Das hinter seiner Verrichtung (der Fülle seines
Eigenlebens) zurückbleibende Herz erreicht nicht nur sein eigenes
Lebensmaß (seine eigene Leistungshöhe) nicht — es ist auch Herz
eines kranken Organismus und hat sich selbst in seinem Lebens-
bestande herabgemindert; und ebenso bei Überschreitung seiner
Grenzen.
Ein Gesetz der Geschichte ist: G o t t s t r a f t n i c h t .
S e l b s t v e r n i c h t u n g d e s W e s e n s w i d r i g e n i s t d a s
G e r i c h t d e r G e s c h i c h t e . Was Ganzheiten und Glieder
an Fehlumgliederung vollbringen, vermindert oder vernichtet in
demselben Maße ihren eigenen Seinsbestand. Durch diese Selbst-
reinigung sorgt der liebe Gott dafür, daß ihm das Böse in der Welt
nicht über den Kopf wachse.
B.
S c h i c k s a l
Freiheit und Schicksal scheinen einander zu widersprechen. Die-
sen Widerspruch stellten in der „Kategorienlehre“
1
die beiden
Sprichwörter dar: „Der Esel graut schon im Mutterleibe“ und
„Jeder ist seines Glückes Schmied“. Aber der Widerspruch ist nicht
unversöhnlich. Das erste Sprichwort sagt uns sehr bildhaft: daß es
die Eselheit ist, die den Esel bestimmt und nichts anderes. Das
schließt aber Freiheit nicht aus, die Eselheit gibt nur den Rahmen
ab, innerhalb dessen der einzelne Esel die Freiheit seines eigenen
Daseins ausüben könne. Das Arteigene seiner / Ausgliederungs-
macht, seiner Selbstsetzungsmacht, ist mit der Eselheit umrahmt.
Wenn man sagen wollte, daß das seine „Bindung“ sei, so könnte
man doch ebensowohl das Gegenteil sagen: daß hier die Wurzeln
seiner Lebensfähigkeit, Kraft, Freiheit seien, von der er Gebrauch
machen müsse, während z. B. ein Stein solche Lebensmacht und
1
Vgl. mein Buch: Kategorienlehre (1924), 2. Aufl., Jena 1939, S. 225 f. [3. Aufl.,
Graz 1969, S. 206 f.].