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die Tiefe des Lebens / aus. Je reicher der Grund der Unmittelbar-
keit im Menschen ist, umso genialer ist er. Bei Bach, bei Mozart ist
alles in seiner Fülle schlechthin hervorgetreten, nichts ist vermittelt,
nichts erarbeitet, nichts auf Umwegen erdacht. So macht es das Kind,
wenn es versteht. — Je tiefer seine Hervorbringungen in der Un-
mittelbarkeit des Begreifens gegründet sind, um so schaffensmächti-
ger ist der menschliche Geist. Unmittelbarkeit löscht Unterschiede,
Fülle nicht aus. Sie hat nur das eine an sich, daß dabei keine Ver-
mittelungen stattfinden. Da ist sie actus purus.
Beim Menschen dauert diese Unmittelbarkeit nicht an. Das ist
das Tragische, daß der menschliche Geist nach dem Aufschwunge zu
einem Akte der Unmittelbarkeit wieder matt, gleichsam wieder
schläfrig wird, in den Stand der Möglichkeit herabsinkt.
In der Unmittelbarkeit liegt auch, wie wir früher auseinander-
setzten, daß Gott ohne Bild und ohne Vorbild schafft. Platon läßt
Gott auf die Urbilder (Ideen) schauen und ihn darnach die Welt
machen. Das ist ein Sinnbild voller Erhabenheit, aber für die be-
griffliche Deutung der Urschöpfung nicht verwendbar. G o t t h a t
k e i n e „ G e s i c h t e “ . Urschöpfung kennt keine Bilder. Darum
sagt Angelus Silesius:
„Mensch, Gott gedenket nichts, ja wär’n in ihm Gedanken,
So könnt er hin und her, welch’s ihm nicht zusteht, wanken.“
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Das Urschaffen geschieht ohne Stoff und ohne Bilder. Ich be-
merke, daß das die Ideenlehre dennoch nicht ausschließt. Nachträg-
lich und von außen her angesehen könnte man von einer Ordnung
der Schöpfung nach den Ideen als nach Vorbildern (für den Zu-
schauer) wohl sprechen. Es g i b t I d e e n , a b e r n i c h t a l s
G e s i c h t e G o t t e s im menschlichen Sinne, nicht als Bilder,
sondern als B e s t i m m t h e i t e n , als Beständigkeiten des Schaf-
fens. Da sich Gott als Einheit schafft, sind die Bestimmtheiten in
ihm, als in der Fülle des Urschaffenden, gleichsam als Glieder, gleich-
sam als Weisen seiner selbst, Ideen seines Schaffens / ohne als ihm
vorschwebende Bilder oder Gesichte im menschlichen Sinne ge-
deutet werden zu dürfen. A l l e U n m i t t e l b a r k e i t i s t i n
s i c h z e i t l o s , d a h e r a u c h g e s c h i c h t s l o s . Ein Ver-
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Johann Scheffler (genannt Angelus Silesius): Cherubinischer Wandersmann
(1675), 5. Buch, Nr 173.