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Beide Wissenschaftsweisen decken sich also nicht und können in diesem Sinne
auch nicht in Streit geraten. Nur in Grenzgebieten mag das der Fall sein, so z. B.
in der Heilkunde. Die mystische Heilkunde, die auf Hellsichtigkeit, auf Natur-
verbundenheit beruht — wie uns handgreiflich das Beispiel der Seherin von
Prevorst zeigt, welche im magnetischen Schlafe die Kräuter und Kuren angab,
die ihr Erleichterung brachten — diese Heilkunde geht tiefer und trifft sicherer
als die zerlegende, an der Oberfläche bleibende, chemisch-physikalisch eingestellte
Heilkunde von heute. Die innere Verbundenheit mit der Natur lehrt den Men-
schen ihre tiefen und gegenseitigen B e z ü g e (Zugehörigkeiten, Entsprechun-
gen) kennen oder ahnen, wo die naturwissenschaftliche Erfahrung nicht hinzu
kann und ratlos bleibt. Aber auch da ist der Widerstreit auf Grenzgebiete be-
schränkt. / Denn bis zur Bakteriologie dringt jene Hellsichtigkeit und jenes
mediale Schauen allerdings nicht vor und hat es wohl auch nicht nötig.
Genug davon! Wer die Entwicklung der Wissenschaft betrachtet, findet das-
selbe Bild wie in Religion und Kunst: den Gang zur Vermittelbarung. Aber
diese Vermittelbarung soll doch auch wieder zur Verunmittelbarung hinführen.
Und solange die Wissenschaft diese Richtung einhält, also zur Fülle des Herzens
wieder zurückführt, ist ihre Entfaltung grundsätzlich K u l t u r e n t f a l t u n g .
Nicht das äußere Wissen, nicht die Naturwissenschaft ist an sich zu verwerfen,
sondern nur jene Naturwissenschaft, welche ihre untergeordnete Stellung ver-
kennt, welche nicht begreift, daß ihre Erkenntnisse bloß auf einer Unterstellung
beruhen, der Unterstellung, als ob die Natur ursächlich-mechanisch wäre, als ob
es geschlossene Naturursächlichkeit gäbe. Zum K u l t u r f l u c h e wird die Na-
turwissenschaft in dem Maße, als sie diese ihre untergeordnete Stellung nicht be-
greift, damit die Führung im Wissensbegriffe, im Verfahren aller Wissenschaften,
sogar der Geisteswissenschaften, übernehmen und ein Wissen begründen will,
das s i c h h ö h e r e n E i n f l ü s s e n g r u n d s ä t z l i c h v e r s c h l i e ß t ,
das uns eine tote, äußerlich, mathematisch-ursächlich bestimmte Welt vorspiegelt,
jene der „Laplacischen Weltformel“.
Wissenschaft in tieferem Sinne darf nur jene genannt werden, die das sinn-
liche, äußere Erfahrungswissen so zu gestalten vermag: daß es h ö h e r e n
E i n f l ü s s e n g e ö f f n e t w i r d , das heißt daß in dem Erfahren des Wirk-
lichen doch das Irrationale, das Überwirkliche zugleich mitgewußt wird, oder
mitgewußt werden kann. Alles bloß mathematisch-mechanische Wissen ist nur
ein Vorfeld echter Wissenschaft.
Die heute gültigen Begriffe vom Naturgeschehen; vom gesellschaftlichen und
geschichtlichen Geschehen; vom seelischen Geschehen des Einzelnen — sie alle
müssen v e r f a h r e n m ä ß i g v e r w o r f e n werden, weil sie die Darstel-
lung der Natur und des Geistes allein nach äußeren Anzeichen (Indizes), das heißt
mengenhaft und mechanisch-ursächlich durchführen wollen. Was nur nützliche
Kenntnis oder Vor- und Hilfserkenntnis ist, wollen die Träger dieser Forschung
zur echten und sogar zur alleinigen Wissenschaft machen. Sie fordern die Ver-
schlossenheit des Wissens gegen das Höhere und tun damit die geschichtliche Ar-
beit des U n h o l d e n t u m s . In Wahrheit ist nur dort, wo die höhere Befaßt-
heit der Natur, Gesellschaft, Geschichte, Seele als Wirklichkeit erkannt oder zum
mindesten als Möglichkeit offen gelassen wird, echtes Wissen. Weder Natur,
noch Gesellschaft, noch Geschichte, noch Seele dürfen als mathematisch-mechani-
sches Geschehen aufgefaßt, alle müssen sie in ihrem irrationalen Grunde gezeigt
werden; gewiß, ohne an der Fülle des Wirklichen etwas zu verdunkeln. /