374
[431/432/433]
Christi ist darum der Wendepunkt der Weltgeschichte
1
. In einem
solchen Sinne, und zwar gewiß ohne geschichts- / philosophische
Absichten, hat Jacob Burckhardt die Überlegenheit des Christen-
tums gekennzeichnet. Er sagt: „Eine hohe geschichtliche Notwen-
digkeit hatte das Christentum auf Erden eingeführt, als Abschluß
der antiken Welt, als Bruch mit ihr und doch zu ihrer teilweisen
Rettung und Übertragung auf die neuen Völker, welche als Heiden
ein bloß heidnisches Römerreich gänzlich barbarisiert haben würden.
Sodann aber war die Zeit gekommen, da der Mensch in ein ganz
neues Verhältnis zu den sinnlichen wie zu den übersinnlichen Din-
gen treten sollte, da Gottes- und Nächstenliebe und die Abtrennung
vom Irdischen die Stelle der alten Götter- und Weltanschauung
einnehmen sollten.“
2
Jede tiefere Geschichtsschreibung führt zu demselben Ergebnis.
Das Leben des Menschen im Übersinnlichen, das Innewerden der
metaphysischen Hintergründe des Lebens in den verschiedenen For-
men von Religion und Philosophie ist der tiefste Grund der Ge-
schichte. Religion und Philosophie allein sind es, die den Menschen
auf den Grund seines Daseins zurückführen, ihn erwecken, ihn mit
dem Bösen, dem Irrtume, der Eitelkeit dieser Welt in Widerspruch
setzen und ihm die Kraft zu jenem Ringen um die höchsten Güter
geben, das über unsere sinnliche Natur erheben und zur Übernatur
hinführen will. In diesem Ringen mit dem Naturhaften, Tierisch-
Sinnlichen wird die Wissenschaft, die Kunst, wird die gesamte Sitt-
lichkeit, wird das Recht, der Staat und zuletzt auch die Wirtschaft
umgestaltet, geläutert. — / Die Größe der obersten Eingebung, der
1
Daß das Christentum ein Wendepunkt ist, soll nicht sagen, daß es allein die
geoffenbarte Religion gewesen sei. Im weiteren Sinne beruht jede Religion auf
einer Offenbarung. Waren die Völker vor Erscheinen des Christentums von Gott
verlassen? Ignaz Paul Troxler sagt in den: Vorlesungen über Philosophie als
Enzyklopädie und Methodologie (Bern 1835, S. 329): „Ich nahm daher auch
von jeher Anstoß an dem Gegensatz einer natürlichen und einer geoffenbarten
Religion und noch einmal daran, daß selbst die Religion ihrer Natur zuwider
dazu dienen sollte, Gott und den Menschen voneinander zu trennen.“ Jede Re-
ligion ist geoffenbart, in dem Sinne, daß die Grundelemente göttlichen Fühlens
und Denkens aus dem innersten Herzen des Menschen von Gott erweckt wer-
den. Wie die Religion geschichtlich ins Leben tritt, ist dagegen etwas ganz an-
deres.
2
Jacob Burckhardt: Die Zeit Konstantin des Großen (1852), 5. Aufl., Leipzig
1927,' S. 149.