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bezeugt das Beispiel mancher Heiligen, das Beispiel der Seherin von Prevorst;
auch die heutige Religiosität der Naturvölker oder der mythisch-magische Zug
an den alten Märchen und Sagen, die noch zum Teil lebendig sind im Volke.
Diese Unterscheidungen in der Religionsgeschichte sind unerläßlich, um von
der alle ernsthafte Geschichtsschreibung vernichtenden Annahme loszukommen:
alle Religionen seien unwahr und ein Inbegriff von sinnlosem Aberglauben.
Nicht nur Atheisten stehen heute auf diesem Standpunkte, auch Christen (die
das Christentum allerdings ausnehmen) sagen das von den anderen Religionen.
Was aber wahr ist, ist im Gegenteil dies: Alle Religionen haben einen in-
neren Kern, der in sich selbst Wahrheit besitzt. Die Frage ist eine andere, näm-
lich die, mit welchen Verbildungen, Entartungen, Trübungen, mit welchem un-
erlebten Beiwerk, welchem Aberglauben jeweils die betreffende Religion ver-
bunden ist? Es fragt sich immer nur, welcher der wahre Kern und was schlechtes
Beiwerk sei. Es fragt sich weiter, welchen Wert jener jeweilige wahre religiöse
Kern habe. Und das heißt endlich: ob er mehr oder weniger der höchsten Re-
ligiosität, der m y s t i s c h e n , nahe stehe; oder ob er einer echten, schauen-
den, hellsichtigen, dem Urzustande der Menschheit entsprechenden m a g i -
s c h e n Einstellung nahe stehe.
Mystik steht höher als Magie. Die Vermittelbarung in der Magie ist durch
geistige Entfaltung wettzumachen, aber der Verlust des mystischen Geistesgrun-
des ist absoluter Verlust, ist unersetzlich. — Wie die Religionsgeschichte wirk-
lich verlief, davon wissen wir in Wahrheit nicht viel. Daß sie aber den Lauf der
zweifachen Vermittelbarung genommen hat: nach der magischen wie nach der
mystischen Seite hin, soviel lehrt uns der Begriff der Sache und bestätigt die Ge-
schichte. — Darin liegt auch, daß die Religion nicht durch nachträgliche Ver-
nunftschlüsse entstand, sondern von Anbeginn als r e a l e s Verhältnis der
Gottheit zum Menschen.
2. Die Wissenschaft
Auch die Entfaltung der Wissenschaft geht von oben nach unten,
vom Unmittelbaren zum Mittelbaren und darum vom Eingebungs-
vollen zum Verarbeitenden, vom Erlebnis zum Begriff, vom Heili-
gen ins Weltliche. Man darf das begriffliche Denken nicht nur rein
logisch ansehen. Man muß fragen, was ihm zugrundeliegt. Dann fin-
det man, daß es ein Unmittelbares vermittelt, die Eingebung. Je
tiefer die Eingebung reicht, um so mehr zeugt sie von einem Mit-
erleben der Dinge, von einer Verbundenheit mit ihnen, wie sie dem
inneren Urzustande des Menschen eigen ist. Nur in diesem Mitleben
liegt zuletzt die Quelle aller Wahrheit des Begriffes. Denn nur durch
dasselbe (das als Schau, als Eingebung auftritt) ist es möglich,
schließlich solche Vorstellungen und Begriffe zu bilden, die „mit dem
Gegenstande übereinstimmen“ (so pflegt man ja allgemein das We-
sen der Wahrheit zu erklären). Die Quelle des menschlichen Erken-