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sie ist unmittelbar oder gar nicht und daher hat sie stets einen

mystischen Zug. Das zeigt Joseph von Eichendorffs Dichtung auf

jeder Seite:

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„Tief atmend stand ich über diesen Klüften.

Des Lebens Mark rührt schaudernd an das meine.“

„rührt schaudernd“, kennzeichnet das Unmittelbare dieses Erlebens.

Weil das Unmittelbare alles Mystische grundlegend kennzeichnet,

deshalb reden auch die Mystiker mit Vorliebe vom „Schauen“. Denn

die Sinnesempfindung des Schauens — mit den Augen — ist nicht

erschlossen, sondern unmittelbar; was blau und rot sei, weiß nur der

Sehende. Wer es nur erschließen müßte, redete wie der Blinde von

der Farbe. So auch im Geist. Herzrührende Liebe, einleuchtendes

Erkennen, schönes Gestalten, sittlich richtiges Wollen und erfolg-

schwangeres, zugleich sittlich richtiges Handeln — sie alle haben et-

was Unmittelbares an sich. Dem Hartherzigen und Haßerfüllten

kann die Liebe, dem einer Erkenntnis unfähigen Blödsinnigen kann

die Denkfolge in einer Schlußkette oder auch nur der pythago-

räische Lehrsatz nicht erklärt werden, dem Gestaltblinden kann die

Schönheit eines Werkes von Michelangelo und Mozart nicht beige-

bracht werden und dem Gewissenlosen nicht die Sittlichkeit des

Wollens und Sachlichkeit des Handelns; ihm fehlt das Unmittelbare,

Mystische, das Begeisterte des sittlichen Sinnes und des Sachsinnes

für das Handeln.

Dieses Einleuchtende, Herzrührende, Mitreißende, kurz Unmit-

telbare ist auch überall die Quelle des S t a u n e n s ! Das Staunen,

θαυμάξειν, nannte Platon bekanntlich den Anfang der Philosophie,

das will sagen: das Mystische in ihr! Wo das unmittelbare Ergriffen-

sein, das ist das Staunen, fehlt, dort ist der Eingang zur Philosophie

noch nicht gefunden — dort fehlt die mystische Ader! Wem das

Unmittelbare der Liebe, der Denkrichtigkeit, der Schönheit und des

Guten fehlt, der ist nach allem Gesagten in derselben Lage, wie der

Blinde, der von der Farbe redet. In diesem Unmittelbaren haben

wir etwas, das über aller Darlegung, Reflexion, Vorführung und

Gewissenserklärung steht — es ist das M y s t i s c h e in Liebe,

Erkenntnis, Kunst und Sittlichkeit.

Ein mystisches Element, ein mystischer Grund — wenn auch noch

nicht im engeren Sinn mystische Erfahrung und mystisch-eksta-