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samte Lieben, Denken, Gestalten, Wollen und Handeln der Men-
schen. Die mystischen Elemente alles Erlebens sind es, welche überall
die I n n i g k e i t in den Geisteszuständen dar- / stellen, das Innige
in der Liebe, das Innige des Einleuchtens in der Erkenntnis, das
Innige, Hinreißende der Gestaltung in der Kunst, das Innige der Be-
geisterung und Gewißheit im sittlichen Wollen, das Innige des Er-
fülltseins von den Sachzusammenhängen im Handeln. Daher kann
man dieses Unmittelbare, Nichtgetrennte, Innige, Einfache auch Er-
griffenheit, Einheit, Rührung nennen.
Es führt eine gerade Linie von allem Unmittelbaren im gewöhn-
lichen wie im gehobenen Erleben des Menschen bis zu den außer-
ordentlichen Zuständen, bis zur Entrückung höchster Mystik.
Je mehr Unmittelbarkeit, um so mehr Mystik. „Gott wirkt ohne
Mittel und Bilder“, sagt Meister Eckehart, dagegen: „Alle Kreaturen
mitteln“ und „Je mehr du ohne Bilder bist, desto mehr bist du
seines Einwirkens empfänglich“
1
.
III.
Die Einwände gegen die Mystik und ihre Widerlegung
Der eigentliche Einwand gegen die Mystik besteht zuletzt im
Zweifel an ihrer Wahrheit. Man sieht im mystischen Erleben nur
Verirrungen, ja krankhafte Geisteszustände.
Hiermit läßt sich nun insofern schwer rechnen, als es sich um
den Einwand des Blinden gegen die Farbe handelt. Wie soll man den
Blinden anders widerlegen, als daß man ihn auffordert, sein Sehver-
mögen zu heilen, um dann zur Anschauung der Farbe zu gelangen?
Nur mittelbare Hinweise wären noch möglich. Solche finden sich
aber in diesem Buche zu viele, als daß wir sie hier wiederholen
könnten.
Außerdem bestehen noch Einwände, die sich auf die F o l g e n
der Mystik richten. Wir können sie wohl erschöpfend zusammen-
fassen, indem wir unterscheiden: (a) den Einwand vom Standpunkt
der Wissenschaft; er betrifft den Gegensatz von Schauen und reflek-
tierendem Denken; (b) den Einwand vom Standpunkt der Sozial-
philosophie; er betrifft den Gegensatz von Schauen und Handeln;
(c) den Einwand vom Standpunkt der Philosophie und Religion; er
betrifft die Verwischung des Gegensatzes von Schöpfer und Ge-
schöpf.
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Franz Pfeiffer: Meister Eckhart, Leipzig 1857, S. 5, Zeile 25 und S. 7, Zeile 35.