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dem andern Geiste durchdringen, ihn in sich spiegeln, um zum
S e i n z u g e l a n g e n . Das geschieht in der Gezweiung. In der
Welt des Geistes gibt es kein Sein für sich, sondern nur durch anderes
Sein. Wäre es möglich, daß die Gesellschaftslehre an dieser Urtatsache
vorübergeht, ohne in ihren Grundbegriffen und in ihrem Verfahren
davon Kenntnis zu nehmen? Nein, sie darf nicht beim naturwissen-
schaftlichen Verfahren bleiben, sie muß die neue Ebene von Sein, die
sich in der Gesellschaft als einem Geistigen zeigt, auch wirklich als
In-einander, als Gezweiung, Gliederbau, Ganzheit begreifen und ihre
Kategorien daraus ableiten
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.
2 . F r a n z O p p e n h e i m e r ( F r a n k f u r t a m M a i n )
Eine Antwort, die, obzwar von naturalistischen Voraussetzungen
her, die ich nicht annehmen kann, doch mit dem oben dargelegten
universalistischen Ziele erfolgte, erteilte an von Wiese und an Max
Adler gerade in diesem entscheidenden Punkte schon in der Wech-
selrede Franz Oppenheimer. Er sagte:
„Ich halte Spanns Ausgangspunkt für vollkommen richtig: Das Ganze ist in der
Tat vor den Teilen, und zwar nicht nur logisch, sondern auch biologisch und
histo-
risch-soziologisch. Der Organismus ist vor den Organen, die er erst im Lebens-
prozesse aus sich herausgliedert; das sehen wir im Entwicklungsgange der Onto-
genese und in seiner abgekürzten Wiedergabe in der Reifung des Embryo. Zuerst
ist ein gestaltloses Stück lebender Materie, die Amöbe dort, das Ovulum hier,
dann bildet sich der Darm (gastrula) und ein weiteres Organ nach dem anderen.
Und ganz dasselbe gilt geschichtlich-soziologisch: Unzweifelhaft ist die Gesell-
schaft vor dem Menschen vorhanden; der Mensch kann sich nur in der Herde ...
entwickelt haben. Und wenn man, wie Spann es wahrscheinlich zugeben wird,
eine Gesellschaft auffaßt als eine Art von kollektivem Organismus — Herr Spann
nickt mir zu — in dem Sinne wie Kant und neuerdings Simmel den Begriff be-
stimmt haben
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: Als ein Ganzes, dessen Teile zueinander in einem engeren Ver-
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In einer Rückantwort, die Herr Leopold von Wiese als offenen „Brief an Professor
Spann in Wien“, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie, Jg 7, Heft 1, München—Leipzig
1928, veröffentlichte, „bleibt er dabei“, daß „das Ganze und seine Teile . . . gleichzeitig“
seien sowie das kausale und teleologische Verfahren einander „ergänzen“ müssen (S. 27).
Leopold von Wiese hält also nach wie vor diese beiden Widersprüche für vereinbar, sodaß
eine Verständigung nicht möglich ist.
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Ich bemerke, daß ich zustimme, die Gesellschaft als geistigen „Kollektivorganismus“
zu bestimmen, würde aber dabei nicht jene Richtung, die Simmel und zum T e i l auch