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ist; ebenso wie alles Handeln gliedhaft ist (wenn auch allerdings

in nur vermittelter Weise). Tönnies aber denkt sich das gesamte

menschliche Gemeinwesen nach Art des individualistischen Natur-

rechtes durch Vertrag gekennzeichnet, wie aus seinem Buche deut-

lich genug hervorgeht. Das ist aber entscheidend: E r s t i n n e r -

h a l b

d e r

i n d i v i d u a l i s t i s c h e n

G e s a m t e r k l ä r u n g

d e s

m e n s c h l i c h e n

G e m e i n w e s e n s

unterscheidet

er

die naturgewachsenen, aus Blut, Überlieferung und Umwelt erstehen-

den Gruppen wie etwa die Familie, die Nachbarschaft, als „Gemein-

schaft“ von den rational begründeten Gruppen, wie z. B. jedem

Zweckverbande (Aktiengesellschaft, G. m. b. H.), als „Gesellschaft“.

Damit sind, glaube ich, die himmelweiten Unterschiede zwischen

der Lehre von Tönnies und mir deutlich genug gemacht und auch die

Folgerung begründet, daß vom S t a n d p u n k t e m e i n e r

L e h r e a u s seine Unterscheidung von „Gemeinschaft und Gesell-

schaft“ sich nicht nur ärmlich ausnimmt, sondern auch unrichtig ist.

Denn erstens kann es vom ganzheitlichen Standpunkte aus nichts

völlig Unganzheitliches mehr in einer Ganzheit, dem menschlichen

Gemeinwesen, geben. Wer einmal erkannte, daß Geist und Handeln

im Menschen nur gliedhaft möglich ist, für den kann es ebensowenig

völlig Ungliedhaftes im Gemeinwesen geben, wie ein Atmen im luft-

leeren Raume. Tönnies’ „Gesellschaft“ will aber ausdrücklich etwas

Unganzheitliches sein. — Zweitens kann aber auch für das, was Tön-

nies „Gemeinschaft“ nennt, im genauen, strengen Sinne der Begriff

„ganzheitlich“, „organisch“ n i c h t angewendet werden! Daß

nur das N a t u r g e w a c h s e n e , D u m p f e , U n b e -

w u ß t e , a u s U m w e l t u n d Ü b e r l i e f e r u n g K o m -

m e n d e „ o r g a n i s c h “ s e i n s o l l — diesen soziologisch und

geschichtlich ebenso falschen wie unfruchtbaren Standpunkt kann

die Ganzheitslehre nicht annehmen. „Familie“ ist gewiß eine Ganz-

heit — aber nicht wegen, sondern t r o t z ihrer Naturgebundenheit.

Gesellschaft (nicht im Tönnies’schen, sondern im echten Sinne des

Wortes) ist Geist, Gezweiung ist Geist, nur im g e i s t i g e n Werde-

gang wird Gezweiung, wird menschliche Gesellschaft, also nur so-

w e i t s i e ü b e r d a s n o c h n a t u r g e b u n d e n e

T r i e b l e b e n h i n a u s k o m m t .

Wie sollte auch Tönnies, der Naturalist und Marxist der 80er Jahre,