[83/84]
105
befriedigen. Von zehn Gläsern Wasser z.B. kann das erste das Leben
retten, das zweite eine schwere Schädigung der Gesundheit
verhindern, das dritte ein überaus dringliches Bedürfnis der Sättigung
befriedigen usw. bis zum zehnten / Glas, das gerade noch eine ganz
geringe Sättigung und einen eben noch gefühlten Genuß gewährt.
Ohne das Gossensche Gesetz ist die ganze Grenznutzenlehre
undenkbar, weil nur bei stetig abnehmender Bedürfnissättigung jene
jeweils kleinste Größe, jener „Grenznutzen“, überhaupt entstünde, der
als entscheidende Rechengröße die Wert- und Preisbildung
bestimmen könnte. Denn nicht alle Bedürfnisbefriedigungen spielen
nach der Grenznutzenlehre die gleiche Rolle; sondern die jeweils
kleinste, die im Falle des Verlustes eines Teilgutes allein in Wegfall
kommt, bildet ihr die Grundlage der Wertrechnung.
Es sind zwei grundlegende Fehler, welche die Grenznutzenlehre
macht: erstens, daß sie die subjektiven, die psychologischen Vorgänge
bei der Bedürfnisbefriedigung (Zielerreichung) untersucht und
dadurch in P s y c h o l o g i s m u s u n d S u b j e k t i v i s m u s
verfällt — statt die objektive Gliederung der Leistungen, statt das
Gebäude der Leistungen und der daraus erst abgeleiteterweise
folgenden Leistungsgrößen zu untersuchen; zweitens, daß das
Gossensche Gesetz s e l b s t u n g ü l t i g i s t , daher die
Möglichkeit, überall mit einer kleinsten Größe in der Wirtschaft zu
rechnen, fehlt und der Begriff des Grenzwertes ins Wanken kommt.
Über die methodische Unmöglichkeit jedes Psychologismus Näheres unten
1
. Über
die Unrichtigkeit des Gossenschen Gesetzes vergleiche unseren Aufsatz
„Gleichwichtigkeit gegen Grenznutzen“
2
. Hier genüge in aller Kürze darüber
folgendes.
Nehmen wir an, der Durstige wäre ein Wanderer in der Wüste, der das zehnte Glas
Wasser getrunken und sich damit im Sinne des Beispiels vollständig gesättigt hätte.
Nehmen wir aber weiter an, er fände danach einen weiteren vorher vergessenen Vorrat
von zwei Glas Wasser. Nach dem Gossenschen Gesetz hätten diese einen negativen
Wert, da ihr Genuß nur Abscheu erregen könnte. Dem ist aber nicht so, denn der
Wanderer kann sie tatsächlich zu anderen Bedürfnissen verwenden! Er kann z. B. sein
Fleisch kochen, statt es zu braten, und damit zu einem neuen, lang entbehrten Genusse
kommen; er kann sich damit die Hände waschen, er kann sogar seinen Esel damit
tränken und diesem Tiere
1
Siehe unten S. 344 ff.
2
Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd 123, Jena 1925, S. 289 ff.
(Jetzt enthalten in meinem Buche: Tote und lebendige Wissenschaft, 5. Aufl., Graz
1967.)