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A. Die A t a r a x i e o d e r u n e r s c h ü t t e r l i c h e
S e e l e n r u h e
Diese kann, im weitesten, allgemeinsten Sinne gefaßt, als Vor-
stufe der Abgeschiedenheit betrachtet werden, als ein Zwischen-
ding zwischen reiner Gottesgemeinschaft und universalistischer
Welt- / Verbindung. Dieser Zustand erscheint als Bedürfnislosig-
keit
((μηδενός δεϊσθαί)
bei den Kynikern Antisthenes und Dioge-
nes von Sinope, denen diese Tugend hinreichend zur Glückseligkeit
war
(αυτάρκης προς ευδαιμονίαν);
er erscheint als Unempfind-
lichkeit oder Apathie (
απάθεια
), das heißt Affektlosigkeit, bei
den Kynikern, Megarikern, Skeptikern, Stoikern und unter den
Neuern bei Spinoza und selbst bei Kant (in der Anthropologie);
endlich als Ataraxie (
αταραξία)
im engern Sinne, das ist Unver-
worrenheit, Unerschütterlichkeit, bei den Skeptikern, wo sie an
die Enthaltung vom Urteil über die Dinge geknüpft ist
1
. — Zur
Kennzeichnung echter Seelenruhe mag die Anekdote, die Plutarch
mitteilt, dienen, wonach Alexander der Große in den Hain Kra-
neion bei Korinth zu Diogenes von Sinope kommt, der eben an
der Sonne lag. Als ihn Alexander fragte, womit er ihm dienen
könnte, antwortete er: Geh mir ein wenig aus der Sonne. Danach
soll Alexander bewundernd gesagt haben: Wahrlich, wenn ich nicht
Alexander wäre, möchte ich Diogenes sein. — In dieser Antwort
Alexanders, die ihn ehrt, liegt die Erkenntnis, daß aus Diogenes
nicht die bloße Absonderlichkeit spricht, sondern wie es vielmehr
eine wahre Seelengröße erfordert, alle Dinge in der Welt zu lassen
und ein Verhältnis zu ihr als Ganzem zu suchen. Diogenes ist der
Welt so entrückt, daß ihn auch das größte königliche Geschenk
nicht lockt.
Seelenruhe ist noch nicht bewußte, als solche gestaltete Gottesge-
meinschaft; dennoch kann sie nur auf einem Gefühl der Aufgeho-
benheit in der Welt beruhen und auf der Herstellung eines Verhält-
nisses des menschlichen Lebens als Ganzes zum Kosmos. Seelenruhe
ist vor allem nicht Askese, kein Absterben des Leibes. Sie ist eine
heitere, innere Festigkeit, die der Weise nur aus einem vertrauenden
Verhältnis zur göttlichen Natur der Welt schöpfen kann. Das Leben
1
Vgl. Diogenes: L. IX, n.