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das umfangreiche Werk von Ernst Troeltsch über „Die Soziallehren
der christlichen Kirchen und Gruppen“
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bezeichnend. Troeltsch
faßt die soziale Grundlehre oder, wie er es nennt, die „soziologi-
sche Struktur“ des Christentums folgendermaßen auf:
Einerseits ist das Christentum unbegrenzter Individualismus, da der Mensch
sein Maß in sich selbst, seinen Grund in der Unsterblichkeit seiner individuellen
Seele hat. „Das Individuum darf sich als unendlich wertvoll betrachten.“
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Damit
werden zugleich alle irdischen und sozialen Unterschiede der Menschen ver-
wischt, sie alle können unendlichen Wert erlangen, sich ihn durch sittliches Han-
deln schaffen. Aber dieser „ a b s o l u t e I n d i v i d u a l i s m u s “ enthält, so
sagt Troeltsch, doch zugleich einen starken Gemeinschaftsgedanken, der aus der
gleichen Grundidee hervorgeht. Der Gemeinschaftsgedanke liege einmal darin,
„daß zu den in der Selbstheiligung für Gott befolgten Geboten die altruistischen
Gebote überhaupt mitgehören, noch mehr aber darin, daß die für Gott sich
Heiligenden im gemeinsamen Ziel, in Gott, sich treffen; und da der ... Gottes-
gedanke nicht der einer ruhenden... Seligkeit, sondern der eines schaffenden
Willens ist, so müssen die in Gott Geeinigten den Liebeswillen Gottes betätigen.
Daher gibt es für die Gotteskinder kein Recht und keinen Zwang, keinen Krieg
und Kampf, sondern nur eine restlose Liebe.. .“
3
. „So entsteht aus dem absolu-
ten Individualismus ein ebenso absoluter Universalismus, beide rein religiös be-
gründet, ihren festen Halt in dem Gedanken des heiligen, festen Liebeswillens
besitzend .. .“
4
.
Dieser Auffassung gegenüber ergibt sich die Frage, wieweit ein
individualistisches und universalistisches Urelement, sofern sie in
der angenommenen Weise im Christentum gesehen werden müß-
ten, / dennoch jene universalistische Einheit ergäben. Ich kann
jene Einheit, die Troeltsch mit andern Theologen behauptet, nicht
sehen; mir scheint diese Schwierigkeit unter seinen Voraussetzun-
gen unlösbar. Letztere bestehen eben darin, daß der Individualismus
aus dem Verhältnis des Einzelnen zu Gott sich ergäbe; der Univer-
salismus aber erst hinterdrein, nämlich aus dem Sittengebote der
Nächstenliebe. Diese beiden „Voraussetzungen“ wären nach unserer
Ansicht unvereinbare Widersprüche!
Der letzte grundsätzliche Fehler im Gedankengange von Troeltsch
liegt darin: daß das, was im V e r h ä l t n i s d e r e i n z e l n e n
u n s t e r b l i c h e n S e e l e z u G o t t b e s c h l o s s e n l i e g t ,
n i c h t I n d i v i d u a l i s m u s , s o n d e r n A b g e s c h i e -
1
Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, 4 Bde, Bd 1: Die Soziallehren der
christlichen Kirchen und Gruppen, 2 Teile, Tübingen 1912.
2
Troeltsch: Die Soziallehren ... S. 39.
3
Troeltsch: Die Soziallehren ... S. 40.
4
Troeltsch: Die Soziallehren . . . S. 41.