[196/197]
241
d e n h e i t i n s i c h s c h l i e ß t . Nicht Selbstgenugsamkeit, son-
dern Gottesgemeinschaft bedeutet das christliche Verhältnis der un-
sterblichen Seele zu Gott. Denn Gottesgemeinschaft ist niemals Indi-
vidualismus, sondern beruht auf dem gleichen bildenden Verhältnis
wie gesellschaftliche Gemeinschaft. Wohl entsteht dadurch eine Ab-
sonderung des Einzelnen von der Welt und den Menschen, aber
nicht aus Selbstgenugsamkeit (Individualismus), sondern weil die
Gemeinschaft mit Gott die allbeherrschende, alleinige wird, aus der
alle anderen Verhältnisse ihren Wert ableiten. N i c h t I n d i -
v i d u a l i s m u s u n d U n i v e r s a l i s m u s s t e h e n e i n -
a n d e r i m C h r i s t e n t u m g e g e n ü b e r , s o n d e r n Ab-
geschiedenheit und Universalismus bilden die letzten Wurzeln des
Christentums. Und das sind nun keine gegensätzlichen, sondern nur
noch stufenweise Unterschiede. Den Gedanken, daß eine Religion
auf Individualismus beruhen könne — d i e s e n w a h n w i t z i -
g e n G e d a n k e n k o n n t e n u r e i n e i n s i c h z e r -
f a l l e n e u n d u n r e l i g i ö s e Z e i t f a s s e n .
Richtig ist dagegen, daß die Abgeschiedenheit im Christentum verschieden
ausgeprägt wurde. Sofern die S ü n d h a f t i g k e i t d e r W e l t betont und
d a r a u s Abgeschiedenheit abgeleitet wird, entsteht allerdings ein praktischer
Gegensatz zum Universalismus, der weltfreudig, wirklichkeitsbejahend sein muß,
während die Askese nicht bloß weltfremd und abgeschieden, sondern welt-
f e i n d l i c h werden kann. — Dies ist auch die Ursache für die „staats-
feindliche Tendenz“, die das Christentum in Geschichte und Lehre öfters ge-
zeitigt hat. Je mehr von dieser Weltflucht bestehen bleibt, um so mehr aller-
dings liegen asketische Abscheidung und Universalismus u n a u s g e g l i c h e n
im Christentum. Man kann sich aber damit trösten, daß das innere Ziel der
W e l t rechtfertigung notwendig gerade auch in der frömmsten Gottesvorstel-
lung liegt, wie die Bekenntnisse des heiligen Augustinus, die Lehren des Franz
von Assisi und viele andere christliche Dokumente bezeugen.
/
Die Sache würde verlangen, daß alle mystischen Lehrgebäude, so besonders
jene P
1
o t i n s und J a k o b B ö h m e s , nach ihrer Stellung zur Gesellschaft
und ihrer Abgeschiedenheitslehre dargestellt würden. Dies verbietet uns aber der
Raum. Wir besprechen noch kurz
D . M e i s t e r E c k e h a r t
1
Den reinsten und tiefsten Begriff der Abgeschiedenheit hat Mei-
ster Eckehart entwickelt, einer der größten Geister, die die germani-
1
Meister Eckehart, deutsch von Eduard Lehmann, Göttingen 1919 (beste
neuhochdeutsche Übertragung in Auswahl). — Die bisherige mittelhochdeutsche
16 Spann,4