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Andiener der Schneider und deren ängstliches Absehen die Einglie-
derung in die / Zieraffengesellschaft des Modekreises ist, dort
Naturbursche, Wandervogel, Sturm und Drang; hier Zweikampf
und ritterliche Tugend als vornehmster Ehrenpunkt in Geltung,
dort gerade diese als Überbleibsel aus dem finsteren Mittelalter ver-
abscheut; hier die Künstler, dort die hausbackenen Philister — alle
diese Kreise sind einander gegenseitig nicht etwa feindlich, nein,
mehr: sie sind einander fremd, unverständlich. Was aber noch wei-
ter wundernimmt, diese Unverstandenheit scheint zu wachsen, je
näher sich die betreffenden Gruppen stehen. Daß Künstler und Phi-
lister einander nicht verstehen, leuchtet ein, was soll man aber dazu
sagen, daß der Klub der Kubisten und Futuristen, der Impressioni-
sten und Expressionisten, der Mottensammler und der Faltersamm-
ler, daß die Gruppe der Richard-Strauß-Verehrer und der Schön-
berg-Verehrer einander schon gar nicht mehr verstehen! A l l e
d i e s e k l e i n e n G e m e i n s c h a f t e n s i n d e i n a n d e r
f r e m d , w i e v o m M o n d e h e r u n t e r g e k o m m e n .
Aber auch für größere, und damit allerdings in sich schon lockere
Gruppen gilt nun wieder dasselbe. Zwischen Gebildeten und nicht
Gebildeten klafft eine oft beklagte Kluft; und um die innere Welt
des Arbeiters kennenzulernen, sind eigene Bücher geschrieben,
gleichsam Forschungsreisen in die Fabrikwerkstätten unternom-
men, und eigene „Settlements“, das sind Niederlassungen der Wohl-
habenden in Arbeitervierteln, gegründet worden!
Das Bild, das sich hier entrollt, ist das einer maßlosen Zerklüf-
tung; und in der Gesellschaftslehre ist es vor allem, daß wir das
Wort verstehen lernen müssen: In meines Vaters Hause sind viele
Wohnungen. Dem Gesetze der Kleinheit homogener Gemeinschaften
entspricht die Zerklüftung in einander entfremdete Gemeinschaften.
III.
Wieso ist die Gesellschaft nicht ein Chaos einander fremder
Gezweiungskreise?
So müssen wir fragen, wenn wir die Zusammenhanglosigkeit, ja
den Widerstreit der geistigen Kräfte bedenken, den wir eben be-
trachteten. Denn der Bestand der Gesellschaft, das liegt am Tage,
wäre gefährdet, wenn die kleinen, einander fremden Gemeinschaf-