Z w e i t e r A b s c h n i t t
Die Kunst
I. Das Wesen der Kunst
Wie hinter der Wissenschaft die Frage nach dem Wesen des Logi-
schen, der Wahrheit, so steht hinter der Kunst die Frage nach dem
Wesen der Gestalt, des Schönen.
A. Die e m p i r i s t i s c h e A u f f a s s u n g
Gleichwie das Wahre, so wird auch das Schöne in der individuali-
stischen Gesellschaftslehre empiristisch-relativistisch aufgefaßt, um
dann auf Grund einer solchen Wesensbestimmung desto leichter als
umweltlich-gesellschaft- / lich bedingt angesehen zu werden. Und
zwar wird es erklärt:
(1)
psychologisch, indem das Wesen des Schönen entweder als
„Einfühlung“ bestimmt wird („Einfühlung“ besteht darin, daß die
Dinge beseelt vorgestellt werden, unser Ich als ideelles Ich in sie
hineingelegt, hineingeführt wird
1
); oder indem es als „Einheit und
Harmonie im Schauen“ aufgefaßt wird (die doch selbst wieder er-
klärungsbedürftig ist); oder als „innere Nachahmung“; oder als
Selbsttäuschung (Illusionstheorie Konrad Langes
2
);
(2)
wird das Schöne biologisch erklärt, indem es als eine Art
„Funktionslust“ der Organe (Herbert Spencer, Richard Wahle,
Wilhelm Jerusalem) betrachtet wird (entspricht besonders dem
Pragmatismus im Logischen);
1
Theodor Lipps: Ästhetik, Psychologie des Schönen und der Kunst, 2 Bde,
Hamburg, Leipzig 1903—06, Bd 1.
2
Konrad Lange: Wesen der Kunst, Grundzüge einer realistischen Kunst-
lehre, 2 Bde, Berlin 1901.