358
[295/296]
(3)
endlich wird das Schöne psychologisch-biologisch und gesell-
schaftlich zugleich erklärt, so, wenn als Zweck der Kunst betrachtet
wurde, die menschlichen ästhetischen Bedürfnisse zu befriedigen;
ferner wenn außer den genannten Faktoren die u n m i t t e l b a r e
Einwirkung der gesellschaftlichen Umwelt in den Vordergrund ge-
stellt wird („Milieutheorie“), so von Karl Groos
1
, Ernst Grosse
2
,
Hippolyte Taine
3
, Gabriel Tarde, Jean Marie Guyau
4
, Wilhelm
Wundt (die Kunst dient ursprünglich dem Zauber und Schmuck)
5
und anderen
6
.
Auch die empiristische Erklärung der Kunst geht wie jene des
Wissens von den sinnlichen Eindrücken (Reizen, Daten) aus. Sie
sieht darum im Kunstwerke folgerichtig nur die Spiegelung biolo-
gischer, sensueller, seelischer, gesellschaftlicher Vorgänge. Sie kann
aber vom Psychologischen niemals zum Eigentümlichen der Kunst
selbst kommen und ebenso wenig vom Gesellschaftlichen schlecht-
hin zum arteigenen Objektivationssystem „Kunst“ — denn wie
sollte sich der künstlerische „Nutzen“ etwa vom wirtschaftlichen
unterscheiden, warum überhaupt „Kunst“ als arteigene Gestaltung
von Gesellschaft, wenn sie nur U t i l i t ä t s f o r m ist? Dieser
Uferlosigkeit gegenüber muß / genau wie beim Logischen die feste
Eigengesetzlichkeit, die innere Ursprünglichkeit und Apriorität der
Kunst betont werden.
Eine weitere Widerlegung der heute absterbenden empiristischen Lehre ist
angesichts der früheren ausführlichen Behandlung des empiristischen Grund-
gedankens wohl erläßlich
7
.
1
Karl Groos: Einleitung in die Ästhetik, Gießen 1892.
2
Emst Grosse: Die Anfänge der Kunst, Freiburg i. B. 1894.
3
Hippolyte Taine: Philosophie de l’art, Paris 1865 [3. ed., Paris 1881],
deutscher Titel: Philosophie der Kunst, aus dem Französischen übertragen von
Ernst Hardt, 2 Bde, Leipzig 1902—03; vgl. auch unten S. 371 f.
4
Jean Marie Guyau: L’art au point de vue sociologique, Paris 1888 („Le but
le plus haut de l’art est de produire une émotion esthétique d’un caractère social“,
nämlich Solidarität und Sympathie, p. 21), deutsch von Paul Prina und Guido
Bagier: Die Kunst als soziologisches Phänomen, Leipzig 1911 (= Philosophisch-
soziologische Bücherei, Bd 24).
5
Wilhelm Max Wundt: Elemente der Völkerpsychologie, Grundlinien einer
psychologischen Entwicklungsgeschichte der Menschheit, 2. Aufl., Leipzig 1913,
S. 94 ff. und 253 ff.
6
Vgl. etwa den Überblick bei Joseph Fröbes: Lehrbuch der experimentellen
Psychologie, Bd 2, 2. Aufl., Freiburg i. B. 1922, S. 328 ff.
7
Siehe oben S. 334 ff.