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Bei der Bestimmung der Stellung der Wissenschaft im menschli-
chen Geiste haben wir uns besonders an die Worte des Aristoteles
gehalten: „die Menschen verlangen von Natur nach dem Wissen“.
Verlangen sie auch von Natur nach der Kunst? Ja, denn das Wissen
des Gegenstandes und das G e s t a l t e n des (in der Eingebung)
Gewußten, die Kunst, sind Grundtaten des menschlichen Geistes.
Das soll nun die folgende Betrachtung zeigen.
Zuvörderst gilt es aber, Irrtümer abzuweisen, wie sie in unserer
heutigen individualistischen und nützlichkeitsjägerischen Zeit herr-
schen, und zu sagen, was die Kunst n i c h t ist.
Die Kunst ist zuerst nicht Unterhaltung, Vergnügen, Zerstreu-
ung. Das widerspräche dem oben erörterten Merkmale der Unin-
teressiertheit. Ins Schauspiel gehen, um sich zu „zerstreuen“, heißt
ebensoviel wie in die Kirche gehen, um sich lustig zu machen.
Die Kunst ist auch nicht „schöner Schein“ und damit ein Subjek-
tives, vom Menschen bloß Herbeigewünschtes, Erfundenes. In ihr
ist nichts Scheinbares, da sie im Gegenteil ein Auszug aus der Wirk-
lichkeit ist, selbst in phantastischer Gestalt. Zum Beispiel wird
„Klein Zaches“ in Hoffmanns Novelle als vollkommen phantastisch-
märchenhafte, durch Magie wirkende Gestalt vorgeführt, und den-
noch ist das Wesentliche daran, nämlich daß ein anderer den Lohn
für die Leistung, die / wir selbst vollbracht, einheimst, und die
Welt dem Unechten zujubelt, etwas Typisches, vollständig der
Wirklichkeit Angehöriges. — Darum nennt Tieck mit Recht die
Dichter diejenigen, welche das Leben und die Erfahrung v e r -
d i c h t e n und setzt ihnen die V e r d ü n n e r entgegen.
Auch kann die Kunst nie und nimmer zieräffische Tändelei, „Ele-
ganz“, sein. Die „Eleganz“ ist im Gegenteil notwendig und überall
eine bestimmte Art von Afterschönheit, jene Afterschönheit, die
bewußt um eine haarscharfe Linie an der reinen und ungetrübten
Schönheit vorbeigeht. Dieses Vorbeigehen geschieht durch eine Un-
terstreichung und Reizung niederer Sinnlichkeit. Ein Volk, dem
wahre Schönheit im Blute liegt, wie die alten Griechen, kennt zwar
die Abwechslung und Mode, aber niemals die Eleganz. Auch die Re-
naissance, wieder eine Zeit echter Schönheit, kannte die Eleganz im
eigentlichen Sinne noch nicht. Diese scheint erst durch die Franzo-
sen in die Welt gesetzt worden zu sein — in diesem Punkt ein ver-
dorbenes Volk! Denn es gibt nicht leicht etwas Schlimmeres als