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die bewußte Zerstörung des Schönen durch Unnatur und Herausfor-

derung. — Die „Eleganz“ schließt außer der Unnatur auch eine

Schwäche im Schönen in sich. Daher das Kalte, Geschminkte aller

Eleganz. Sie gleicht dann dem Tätowieren, das ein unheimlich Leb-

loses an sich hat. (Anders das echte Tätowieren der Naturvölker, das

auf Zauber beruht.)

Die Kunst ist endlich auch nicht „idealisierend“, im Sinne will-

kürlicher oder tendenziöser Umgestaltung der Wirklichkeit nach den

persönlichen Wünschen des Künstlers oder Zuhörers, nämlich senti-

mental, empfindelnd, schönfärberisch, predigend usw.; und ebenso-

wenig ist sie „moralisierend“ im Sinne von „tendenzhaft“, von

„Tendenzkunst“

1

. Denn echte Kunst hat selbst in sinnbildlicher

Form („Symbolismus“) ihren vollen Wirklichkeitsgehalt, ist zu

jeder Zeit und in jeder Gattung „Verdichtung“ der Wirklichkeit,

wie es das oben angeführte Wort Meister Tiecks so tiefblickend be-

zeichnet. Als schönfärberisch und absichtsvoll aber wäre sie dünn

wie Wassersuppe.

Die Stellung der Kunst im menschlichen Leben ist also weder

durch Unterhaltung noch subjektive Täuschung noch Eleganz

noch auch tendenzhafte Sittenpredigt und schönfärberische Idealisie-

rung des Lebens bezeichnet.

Die Antwort auf die Frage, was die Kunst wirklich bedeutet und

ihrer Natur nach ist, wird in der Gesellschaftslehre je nach indivi- /

dualistischem oder universalistischem Standpunkte verschieden aus-

fallen. Jener Gesellschaftsforscher, der die Kunst individualistisch

und empiristisch betrachtet, muß eine andere Antwort geben als

jener, der sie universalistisch und nicht-empiristisch betrachtet. Die

empiristisch-individualistische Antwort haben wir oben angedeu-

tet

2

. Ehe wir die Rolle der Kunst in Gesellschaft und Leben nach

nicht-empiristischer und universalistischer Auffassung begrifflich

bestimmen, lassen wir zuerst Beispiele sprechen.

Unsere Jugend schöpft aus der Siegfriedsage und ihren Dichtun-

gen die Idee des lichten Helden, des furchtlosen und reinen Strei-

ters, der zwar den dunklen Mächten erliegt, aber nicht ohne Hoff-

nung auf den endlichen Sieg des Guten. Jeder rechte Junge erfährt

dieses in sich, auch ohne Reflexion und ohne Auslegung durch den

1

Darüber später mehr.

2

Siehe S. 359 f.