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entraten kann wie der Staatsmann. Die Gleichungen: verbildete
Kunst — verbildetes Leben; kunstarmes Leben — veräußerlichtes
Leben, sind geschichtliche Wahrheit
1
.
Die Leistung der Kunst für die innere Bildung des menschlichen
Geistes ist damit der logisch-intellektuellen Bildung durchaus eben-
bürtig. Ja, während das, was Wissenschaft leisten kann, öfter bald
auf einen toten Punkt für das Wachstum innerer Kräfte kommt,
kann die Kunst stets von Vertiefung zu Vertiefung schreiten.
In der Wissenschaft ist die auf Eingebung folgende zerlegende
Verrichtung (das Diskursive) sehr ausgebreitet. Kunst beruht noch
mehr auf der Eingebung, Kunst ist Urgabe des Menschen. An ihrem
Feuer entzünden sich alle Gaben, entzündet sich das gute Herz (das
ohne Schauen leer ist), entzündet sich die Wissenschaft, die sich in
ihr vollendet, die Philosophie selbst, die Königin des Lebens!
Es ist eine der schwersten Kulturnöte unserer Zeit, daß sie nur die
verstandesmäßige Bildung zu pflegen vermag. Kulturpflege muß
heißen: jedes Kulturelement als vollwertiges behandeln, um das
Ganze zu erhalten. Die G e s c h i c h t e h a t b i s h e r e i n
g r o ß e s Z e i t a l t e r o h n e g r o ß e K u n s t n i c h t g e -
s e h e n . Die Pflege der Kunst kann aber freilich nur in innerer
Entsprechung zu den anderen geistigen Inhalten der Kultur ge-
schehen.
Z u s a t z ü b e r d a s W e s e n d e r K u n s t
Kehren wir von da nochmals zu der Frage nach dem Wesen der Kunst zurück:
W o r a n e r k e n n t m a n e i n K u n s t w e r k , w o d u r c h u n t e r -
s c h e i d e t m a n e s v o n S c h u n d u n d U n e c h t e m ? Diese Frage ist
gerade in der heutigen Zeit so unendlich wichtig, wo Kubismus, Futurismus,
Dadaismus, Kindertrompetenmusik, Impressionismus, Expressionismus, Naturalis-
mus und Ästhetentum, wie noch viele andere „Ismen“ den Begriff des Echten
und Wahren vollkommen verwirrt haben, wo nervenzerrüttete Menschen und
arme Geisteskranke als führende Künstler gefeiert werden. Die gesamte Moderne
von Strauß bis Schönberg, von Zola bis Rilke und Schnitzler, von Klinger bis
Rodin (um nur diese zu nennen) ist ein Ausbund von Können und Könnern,
aber eine trostlose Leere an Künstlern / und Künstlertum. In der Wissen-
schaft und Philosophie wird der fürchterliche Verfall unserer individualistischen
Zeit durch die Gediegenheit des Exakten noch gemildert und verborgen; in der
Kunst kommt die Gehaltlosigkeit des Lebens, die Verirrung des Urteils, die
Sexualisierung und Verderbnis von Presse, Schauspiel und öffentlicher Meinung
wie nirgends sonst zur Geltung.
1
Die später zu entwickelnden Vorrangsätze über das Verhältnis von Reli-
gion, Wissenschaft, Kunst werden die Frage weiter aufklären; siehe unten S. 374 ff.