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Klasseninteressen“ waren), Ideenkämpfe, Kämpfe der Kulturgedanken erfüllen
in Wahrheit die Geschichte — wofür nur die Kreuzzüge und die Renaissance
als Kronzeugen genannt seien.
Auch hält der wirtschaftliche Klassenbegriff keineswegs der nüchternen
Zergliederung stand. Der B a u e r z. B. ist vor allem gekennzeichnet durch
das Verwachsensein mit der Natur, durch die Arbeit an Lebendigem, die
daraus folgende Arbeitsfreude, durch das Gefühl der Abhängigkeit von einer
höheren Macht, durch Bindung an die Familie, an feste Sitten und Bräuche,
endlich durch das Zusammenleben mit verhältnismäßig wenigen und gleich-
artigen Menschen. Durch alle diese Eigenschaften ist er zähester Träger alter
Überlieferung und völkischen Wesens, nicht aber durch seine wirtschaftliche
„Interessenlage“. Heute hat das Bauerntum an diesen Eigenschaften zwar viel
eingebüßt, doch sind in Form sogenannter H e i m a t b e w e g u n g e n Kräfte zu
seiner Wiederherstellung am Werke
1
. / — Ähnlich kennzeichnet sich der
A d e l vor 1789 zuerst als Träger gesellschaftlicher Verrichtungen, als Vertreter
der Vergangenheit und des Zusammenhanges des gesellschaftlichen Lebens in der
Zeit, als vereinheitlichendes und vermittelndes Glied zwischen der monarchischen
Macht und breiten Schichten politischer Gruppen. Die wirtschaftliche Eigenschaft
als bevorrechtigter Großgrundbesitzer tritt dagegen zurück.
2
Wesentlich ist schließlich noch das Marxische Ideal der Gesell-
schaft: Die wesensgemäße, reine Konstruktion der Gesellschaft, ihr
„ordre naturel“ — zielt auf eine homogene, eine „ k l a s s e n l o s e
G e s e l l s c h a f t “ ab, in der weder Unterdrückung der einen
Klasse durch die andere noch überhaupt Klassenkampf bestehen.
Klassenlosigkeit erscheint dieser Auffassung als das reine Baugesetz
der Gesellschaft!
Dies sind die Bestimmungsstücke der individualistischen Auffassung der
Klasse. Daß sie im Marxismus am reinsten ausgeprägt wurden, zeigt, wie dieser
im Grunde ganz individualistisch, keineswegs universalistisch geartet ist.
2.
Die u n i v e r s a l i s t i s c h e E r k l ä r u n g d e r
„ K l a s s e “ : a l s S t a n d
Vom universalistischen Standpunkt aus sind die Voraussetzungen
für die Begriffsentwicklung völlig andere. Gesellschaft ist eine Ganz-
heit, Ganzheit besteht aus Gliedern. Gesellschaft in ihrer Ganzheit
ist keine stoffliche, sondern allein eine g e i s t i g e Ganzheit. Die
Form aller geistigen Ganzheit aber ist: geistige Gemeinschaft zu
sein. In der geistigen Gemeinschaft sind die Einzelnen nicht vorher
1
Vgl. J. Weipert: Das Dorf entlang, 1923.
2
Vgl. Adam Müller: Elemente der Staatskunst (1809), herausgegeben von
Jakob Baxa, Jena 1922 (= Die Herdflamme, Bd 1).