550
[460/461]
gemacht. Erst im letzten Jahrzehnt sind Strömungen zur Herrschaft gekommen,
welche die nationale Einigung anstreben. Es vollzieht sich da vor unseren Augen
das seltene Schauspiel der Bildung einer Nation aus zwei Brudervölkern. — Die
neuere anthropogeographi- / sche Bewegung betrachtet den geographischen
Raum (Klima, Bodenbeschaffenheit usw.) als Grundlage der Entstehung der
Volkheiten (wie der Staaten), wenn auch nicht als eigentliches Merkmal ihres
Begriffes. So mehr oder minder Ratzel
1
, Kirchhoff, auch Staatsrechtslehrer wie
Richard Schmidt
2
. Siebenbürgen, als einheitlicher Raum, zählt aber mehrere
Nationen. Es ist überhaupt eine grobe Art, die höchsten menschlichen Schöp-
fungen als Reflexe der äußeren Lebensaufgaben, die Boden und Klima stellen,
zu betrachten, welche schon von B a g e h o t
3
zurückgewiesen wurde.
4 .
G e m e i n s a m e K u l t u r u n d Ü b e r l i e f e r u n g
stellt von den Neueren in den Mittelpunkt F r i e d r i c h J u l i u s N e u m a n n .
Nach ihm ist die Nation „eine Bevölkerung, die infolge höherer eigenartiger Kul-
turleistungen ein eigenartiges, gemeinsames Wesen gewonnen hat, das sich auf
weiteren Gebieten von Generation zu Generation überträgt“
4
. Schon S c h i l l e r ,
W i l h e l m v o n H u m b o l d t , F r i e d r i c h L u d w i g J a h n , F i c h t e
und andere stehen auf diesem Boden. Fichte sagt: „Volk ist das Ganze der in
Gesellschaft... sich ... natürlich und geistig erzeugenden Menschen .. .“
5
. Diese
Gemeinschaft wird zum Volk erst eigentlich als „Träger und Unterpfand der
irdischen Ewigkeit“, das heißt als Verkörperung höchster Kulturwerte
6
. Ähnlich
manche neueren Schriftsteller. Es ist dies eine Begriffsbestimmung, die jeden-
falls auf dem Boden der Wahrheit steht, weil sie unendlich mehr erklärt, als
Staat, Sprache, Rasse als alleinige Merkmale erklären können. In solcher Form
ist sie aber noch zu unbestimmt, als daß man sie exakt verwenden könnte. Denn
einmal ist der Umfang und Grad eines „eigenartigen gemeinsamen Wesens“
(N e u m a n n) auf Grund „eigenartiger Kulturleistungen“ nicht fest begrenzt,
das heißt der Kulturbegriff offen gelassen; was aber der wichtigste Mangel dieser
Gruppe von Begriffserklärungen ist: es fehlt jede grundsätzliche Verhältnis-
bestimmung zu Staat, Sprache, Rasse, die doch gewiß in organischer Verbindung
mit der Nation stehen. Ferner aber stehen dieser Ansicht jene Völker gegenüber,
die man nicht mit Unrecht „Staatsnationen“ genannt hat ( H o l l a n d , zum Teil
auch die S c h w e i z ) . Hier scheint die Kulturgemeinsamkeit zu versagen.
1
Friedrich Ratzel: Anthropogeographie, 2. Aufl., Stuttgart 1912.
2
Hand- und Lehrbuch der Staatswissenschaften, Abteilung 3, Bd 1: Richard
Schmidt: Allgemeine Staatslehre, Leipzig 1901, S. 132 ff.
3
Walter Bagehot: Der Ursprung der Nationen, Leipzig 1874, S. 97 ff. (= In-
ternationale wissenschaftliche Bibliothek, Bd 4).
4
Friedrich Julius Neumann: Volk und Nation, Leipzig 1888, S. 74, hier-
selbst auch die gesamte ältere Literatur und sorgfältige Zusammenstellung des
Tatsächlichen.
5
Johann Gottlieb Fichte: Sämtliche Werke, herausgegeben von Immanuel
Hermann Fichte, 3 Abteilungen, 8 Bde, Bd VII: Zur Politik, Moral und Philo-
sophie der Geschichte, Berlin 1845, daraus: Reden an die deutsche Nation (1807
bis 1808), achte Rede, S. 381. — Vgl. auch Friedrich Ludwig Jahn: Deutsches
Volkstum (1810), Leipzig 1896, S. 34 ff. (= Meyers Volksbücher, Nr. 1132—1135).
6
Johann Gottlieb Fichte: Sämtliche Werke, Bd VII, . . . , S. 384.