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Aber die Geistigkeit des Zusammenhanges bedeutet noch keine subjektive Be-
wußtheit.
Das Ergebnis dieser lehrgeschichtlichen Betrachtung ist ziemlich trostlos.
Eine arge Begriffsverwirrung gleich sehr bei jenen, die das Volkstum gering ein-
schätzen möchten, zum Beispiel bei den meisten Rednern des Soziologentages
1
, wie
bei jenen, die ihm die größte Bedeutung beimessen.
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B . L e h r s t ü c k d e s V o l k s t u m s i n U m r i s s e n
1 . D i e v e r s c h i e d e n e n A r t e n v o n G e m e i n s a m -
k e i t i n d e n v e r s c h i e d e n e n B e g r i f f e n
d e s V o l k s t u m s
Überblickt man die vielen Widersprüche, welche Geschichte und
Wirklichkeit zeigen — Holland, Schweiz gegenüber Deutschland;
Dänemark gegenüber Norwegen; Basken gegenüber Spaniern
usw. —, so bleibt als fester Ausgangspunkt der Untersuchung nur
übrig, daß jeder mögliche Begriff des Volkstums eine Art von Ge-
meinsamkeit, das heißt also (was sich zunächst allerdings von selbst
versteht): daß das Volkstum nicht als Staat selbst, als Rasse selbst
usw. gefaßt werden kann, sondern nur immer als gemeinschaftliches
Haben des Staates (Staatsvolk), das heißt als Staatsgemeinsamkeit
der Bevölkerung, als gemeinsames Haben der Sprache (Sprachvolk),
der Rasse (Rassenvolk), des geographischen Raumes (Raumvolk), der
Religion usw. Der Begriff des Volkstums erweist sich als ein Be-
griff von irgendwelcher Gemeinsamkeit.
Dies festgehalten, zeigt sich sogleich, daß alle die aufgezählten
„Gemeinsamkeiten“, mit welchen die Volkheit gleichgestellt wurde,
g a n z v e r s c h i e d e n e n inneren Aufbau haben.
Das S p r a c h v o l k , jene Menschen, welche die gleiche Sprache
sprechen, hat damit nur eine bestimmte formale Bedingung zur
Aufnahme geistiger Inhalte gemein. (Allerdings ist die Sprache noch
über ihre Bedeutung als gleiches Verständigungsmittel hinaus eine
Bedingung zur Bildung geistiger Gemeinschaft; jedoch gehört der
von ihr überlieferte geistige Inhalt begrifflich zur Kultur.)
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Vgl. die Verhandlungen des zweiten deutschen Soziologentages vom zo. bis
22. Oktober 1912 in Berlin, Tübingen 1913, dessen Hauptthema der Begriff des
Volkstums war. Mit Vorträgen von Paul Barth, Ferdinand Schmid, Ludo Moriz
Hartmann, Otto Bauer, Franz Oppenheimer, Robert Michels.