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Um dieser Schwierigkeit zu entgehen, griff man zu dem ganz merkwürdigen

Ausweg, zwischen S t a a t s - u n d K u l t u r n a t i o n zu unterscheiden. So

K i r c h h o f f (wie oben schon mitgeteilt) und auch F r i e d r i c h M e i n -

e c k e in seiner historischen Untersuchung „Weltbürgertum und Nationalstaat“

1

.

— Wie man zu solch handgreiflichen Widersprüchen seine Zuflucht nehmen kann,

verstehe ich allerdings nicht. Man setzt doch damit nichts Geringeres fest als

zweierlei Arten von Volkstum, und es bleibt damit die Aufgabe noch bestehen,

den g e m e i n s a m e n O b e r b e g r i f f z u f i n d e n ! Wieso sind sie denn

aber nun beide noch „Nationen“, wenn sie doch beide verschiedenen inneren Zu-

sammenhalt haben? Was / ist nun Nation, wenn sie sowohl durch Staats- wie

durch Kulturgemeinschaft entstehen kann? Das war und ist die Frage, die sich

ebenso der Sprache wie der Rasse usw. gegenüber erhebt.

H a s s e , K a e m m e l , L a z a r u s und andere fassen wieder alle bisher

angeführten Merkmale zusammen und fügen noch die ausdrückliche Bewußtheit

der völkischen Zusammengehörigkeit hinzu. E r n s t H a s s e sagte: „Wir ver-

stehen unter Nation eine Gesamtheit von Menschen gemeinsamer Abstammung,

die eine und dieselbe Sprache sprechen, eine gemeinsame politische und kulturelle

Entwicklung durchgemacht haben und das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit

besitzen.“

2

Ähnlich Otto Kaemmel

3

. — Hierdurch entsteht nun vollends ein

Chaos. Daß einige der Merkmale, z. B. Rasse, Sprache, Staat, sich geschichtlich

meist ausschließen, liegt ja auf der Hand. (Die Deutschen hatten Dutzende von

Staaten, waren aber nur eine Volkheit.) Hasse fühlt auch diesen Widerspruch,

indem er nur die Sprachgemeinschaft als unentbehrlich bezeichnet. Das Schlimmste

scheint mir aber die Forderung der Bewußtheit. Den sachlichen Bestimmungs-

stücken: Rasse, Staat, geographischer Raum usw. wird nun plötzlich ein sub-

jektives gegenübergestellt, nämlich die ausdrückliche Bewußtheit des völkischen

Zusammenhanges. Dieses subjektive Merkmal kann darum nicht entscheidend

sein, weil es dem objektiven Tatbestand nichts Grundsätzliches hinzufügt.

Außerdem ist es in der Erfahrung nicht zuverlässig, wofür die Elsässer und

Schweizer ein Beispiel sind. Diese sind und bleiben Deutsche, wenn sie es auch

zum Teil nicht wissen oder gar ihr Deutschtum schmählich verraten. Manche von

ihnen würden sich vielleicht heute noch als Nicht-Deutsche erklären. Friedrich

Lienhard, Gottfried Keller, Conrad Ferdinand Meyer haben dagegen begeistert

das Deutschtum gepredigt, und sie haben offenbar das r i c h t i g e r e Bewußt-

sein! Die große Wichtigkeit des Nationalbewußtseins für die praktische Stärkung

des Volkstums bleibt natürlich bestehen, hat aber mit dem Wesensbegriff des-

selben nichts zu tun. Die verhältnismäßig beste Verteidigung dieser Ansicht hat

Lazarus gegeben: „Man wundere sich nicht über die subjektive Natur, die wir dem

Begriffe Volk (Nation) zuerkennen durch das Merkmal der ausdrücklichen Be-

wußtheit. Das Volk ist ein rein geistiges Wesen ohne irgend etwas, was man an-

ders als bloß nach Analogie... seinen Leib nennen könnte ... Volk ist ein geisti-

ges Erzeugnis . .. Das erste Erzeugnis des Volksgeistes.“

4

Das ist an sich richtig.

* Friedrich Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat, Studien zur Genesis

des deutschen Nationalstaates, 2. Aufl., München 1911.

2

Ernst Hasse: Das deutsche Reich als Nationalstaat, München 1905, mit

reicher Schriftenangabe.

3

Otto Kaemmel: Der Werdegang des deutschen Volkes, Historische Richt-

linien für gebildete Leser, 2 Bde, Bd 1: Das Mittelalter, Bd 2: Die Neuzeit,

Leipzig 1896.

4

Moriz Lazarus: Was heißt national? Ein Vortrag, Berlin 1880, S. 13.