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was man „Recht im allgemeinen“, „Grundsätzliches Recht“ nennen
könnte und das herkömmlicherweise N a t u r r e c h t o d e r G e -
r e c h t i g k e i t heißt. — Hier stoßen wir wieder auf den Unter-
schied der individualistischen und universalistischen Auffassung.
a. Das individualistische Naturrecht
sagt: das Recht ist in seinen Grundlagen von Natur gegeben
(durch Vernunft erkennbar), es gibt „natürliches Recht“, ewige
„Menschenrechte“, voran die Freiheit. Dieses „Naturrecht“ ist
i n d i v i d u a l i s t i s c h , sofern es vom Einzelnen ausgeht,
r a t i o n a l i s t i s c h , sofern es durch die Vernunft bestimmt,
u n g e s c h i c h t l i c h , sofern es rationalistisch ist.
Der tiefere Grund für diesen Rationalismus ist aber, daß man durch die Ver-
nunft die individualistische Zergliederung der Gesellschaft soll durchführen
können; und daß aus dieser individualistischen Gesellschaftsauffassung dann
die „natürlichen“, das heißt aber nichts anderes als die der Stellung des Ein-
zelnen im gesellschaftlichen Leben wesensgemäßen Rechte entspringen sollen.
W e n n n ä m l i c h d i e G e s e l l s c h a f t n u r e i n e Z u s a m m e n s e t -
z u n g a u s E i n z e l n e n i s t , m u ß d a s R e c h t w e s e n s g e m ä ß d e n
L e b n
s e r f o r d e r n i s s e n
u n d
E n t f a
1
t u n g s e r f o r d e r n i s s e n
d e r E i n z e l n e n e n t s p r i n g e n .
Was immer für verschiedene Gestaltungen von individualistischem „Natur-
recht“ man daher in der Lehrgeschichte finden mag, die machiavellistische, die
vertragstheoretische, die anarchistische sowie Mischungen davon — besonders auch
Berufungen auf Religion und Autorität —, stets wird man finden, daß das
„N a t ü r l i c h e “ d i e s e s R e c h t e s a u f d i e i n d i v i d u a l i s t i s c h e
G e s e
11
s c h a f t s e r k
1
ä r u n g z u r ü c k g e h t u n d e b e n s o a u f d i e
a u s d e r i n d i v i d u a l i s t i s c h e n G e s e l l s c h a f t s e r k l ä r u n g f o l -
g e n d e u t i l i t a r i s c h e S i t t e n l e h r e . Die Sophisten sind vertragsrecht-
lich, machiavellistisch und utilitarisch, das neuere Naturrecht ist vornehmlich nur
vertragsrechtlich und utilitarisch mit psychologistischen, aber zum Teil sogar auto-
ritären Einschlägen.
b. Das universalistische Naturrecht oder die Gerechtigkeit
Was vollkommen ist, kann man vom universalistischen Stand-
punkte aus nicht aus der Werkzeuglichkeit und äußeren Nützlich-
keit (Utilität) gesellschaftlicher Einrichtungen her bestimmen, son-
dern nur aus Forderungen, die über die Gesellschaft hinaus liegen.
Die Vollkommenheitsordnung kann ihrem Inhalte nach nur über-
gesellschaftlich begründet werden. Daher muß das universalistische
Naturrecht seinem Inhalte nach übergesellschaftlich begründet wer-
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