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Unsere Begriffsentwicklung ist in sich abgeschlossen. Da sie aber
dem heute herrschenden Standpunkte gegenüber fremdartig er-
scheint, ist es geraten, noch einige Erörterungen anzuschließen, die
wir nun folgen lassen.
Die ideelle Einheit der Satzungen birgt vom Standpunkte der Streitfragen
aus, die das neuere Schrifttum bewegen, eine Reihe von Schwierigkeiten in sich.
Wir greifen als die wichtigsten heraus:
(1)
die Einheit von Sittlichkeit und Recht;
(2)
die Beziehung von rechtlicher und außerrechtlicher Satzung;
(3)
das Verhältnis von Privatrecht und öffentlichem Recht.
C. Die E i n h e i t v o n S i t t l i c h k e i t u n d R e c h t
Nur eine von empiristischem und individualistischem Verfalle beherrschte
Zeit wie die Aufklärung konnte leugnen, daß Sittlichkeit und Recht von gleicher
Art und eine höhere Einheit sind. Der in allen möglichen Abwandlungen immer
wieder vorgebrachte Haupteinwand der meisten neueren Schriftsteller gegen die
höhere Einheit von Sittlichkeit und Recht lautet etwa: „Wenn es nur darauf an-
kommt, daß bestimmte Normen allgemein gelten — warum sind dann die sitt-
lichen Normen nicht selbst rechtsverbindlich? Warum bedarf es neben der Sitt-
lichkeit noch des Rechtes? Warum gibt es Rechtssätze, die mit der Sittlichkeit
gar nichts zu tun haben, ja der Sittlichkeit widersprechen?“
Auf den letzteren Satz ist zu antworten, daß praktisch die innere Einheit von
Sittlichkeit und Recht freilich nur in unvollkommenem Maße erreicht wird.
Aber der inneren Natur und Tendenz nach ist die Einheit absolut. Es l i e g t
n i c h t i m W e s e n d e s R e c h t e s , d a ß e s e i n u n s i t t l i c h e s
R e c h t g ä b e . Empirisch gibt es unsittliches Recht nur in demselben Sinne,
als es auch eine / unmoralische Moral im Leben gibt, das heißt eine Moral, die
keine ist, die dem Wesen der Moral widerspricht. Ebenso beim Rechte. Nur
die Unvollkommenheit und Lückenhaftigkeit des empirischen Rechtslebens läßt
schlechtes Recht bestehen. Die Perser z. B. kannten eine Klage wegen Undankbar-
keit; also eines Verhaltens, das unser heutiges unvollkommenes Recht fälschlich
der „Sittlichkeit“ zuweist
1
.
Die Hauptfrage in der obigen Kette ist: warum die Sittlichkeit nicht selbst
rechtsverbindlich sei; warum Recht neben Sittlichkeit selbständig erscheine. Sie
erledigt sich durch die Einsicht in die grundsätzlichere und a l l g e m e i n e r e
Natur des Sittlichen, die aber deswegen i n n i g e r i n d e r B r u s t d e s
M e n s c h e n , i n s e i n e r p e r s ö n l i c h e n E i n s i c h t v e r a n k e r t i s t ,
a l s d a s R e c h t , weil sie nicht auf besondere Anstaltszwecke gerichtet ist. Auch
Sittlichkeit, die, wie wir oben sahen, ihrem Wesen nach primär objektive
Sittlichkeit, das heißt „soziale Moral“ ist, wurzelt zwar im Objektiven, gestaltet
sich aber in subjektiver Weise; Recht bleibt mehr an objektiven Aufgaben, nämlich
der anstaltlichen Tätigkeit, haften; a b e r d a r a n h a t d e r E i n z e l n e d e r
I d e e n a c h i n n e r l i c h e b e n s o t e i l z u n e h m e n w i e a n d e r
„ s o z i a l e n M o r a
1
“ . R e c h t i s t d a s h i n s i c h t l i c h a n s t a l t l i -
1
Burkhard Leist: Altarisches Jus gentium, Jena 1889.