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Aus a l l e m e r g i b t s i c h u n s d e r V o r r a n g d e r
T h e o r i e v o r d e r G e s c h i c h t e — aber ein Vorrang, der
doch die Wechselseitigkeit, die wir oben auf zeigten, zur Voraus-
setzung hat! Der Vorrang der Theorie kann niemals in einseitige
Herrschaft der Theorie, mithin niemals in abstrakt-isolierende
Theorie, ausarten, wie sie z. B. in der individualistischen Volkswirt-
schaftslehre (Ricardo, Menger) und im individualistischen Natur-
rechte sich ausprägte; der Vorrang der Theorie kann aber ebenso-
wenig durch einseitige Herrschaft der Geschichte, das heißt niemals
durch Theorielosigkeit der Geschichte oder l e e r e n H i s t o r i s -
m u s gebrochen werden, wie dies z. B. in der Schmoller-Schule zur
Geltung kam. Leerer Historismus in jeder Form bedeutet zuletzt
Positivismus in der Geschichtsschreibung und damit Selbstvernich-
tung; der Vorrang der Theorie vor der Geschichte verhindert end-
lich, daß die Geschichtsschreibung zur K u n s t werde, trotz der
tiefverwandten intuitiven Geistestaten beider, des Künstlers und
des Geschichtsschreibers.
Der Verlust des Vorranges der Theorie erklärt auch manches in
der Entwicklung der neuen Geschichtswissenschaft.
D i e j ü n g e r e n g e s c h i c h t l i c h e n S c h u l e n in der zweiten Hälfte
des neunzehnten Jahrhunderts sind in Positivismus ausgeartet, dadurch wurden
sie in ihrem Verfahren immer mehr naturwissenschaftlich und vernichteten sie
den Geist echter Geschichte, die sie in einen sinnlosen Strom ewig wechselnden
Geschehens verwandeln.
Die r o m a n t i s c h e n g e s c h i c h t l i c h e n S c h u l en dagegen, die
am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts entstanden und der rationalistischen
Aufklärung entgegentraten, hatten noch echten philosophischen Geist am Grunde.
Wenn auch z. B. die Rechtslehre Savignys in ihrer bloßen Geschichtlichkeit zu
weit ging, so war sie doch durch ihre Rückverbundenheit in der Philosophie des
deutschen Idealismus vor reinem Positivismus geschützt. Ähnlich Rankes Ge-
schichtsschreibung durch seine Ideenlehre! — Es war das Streben der Philosophie
Schellings und Hegels, das Philosophisch-Theoretische als die Grundlage der Ge-
schichte zu retten, wie auch umgekehrt durch die Geschichtsphilosophie den Erd-
geruch, die Lebensfrische und Einmaligkeit aller Theorie zu bewahren. Darum
war ihre Geschichts / Schreibung philosophisch und ihre Theorie religiös und
völkisch, was notwendig bedeutet: geschichtlich
1
.
Indem aber die Späteren die rein geschichtliche Empirie zwar übernahmen,
die Rückverbundenheit in der Philosophie jedoch verloren, mußten sie immer
mehr in Positivismus versinken. Daher die innere Gebrochenheit und Skepsis
selbst bei D i l t h e y u n d T r o e l t s c h .
1
Vgl. dazu Georg von Below: Die deutsche Geschichtsschreibung von den Be-
freiungskriegen bis zur Gegenwart (1916), 2. Aufl., München, Berlin 1924,
Kapitel IV und VII. — Vgl. auch Friedrich Seifert: Der Streit um Karl Lamp-
rechts Geschichtsphilosophie, Augsburg 1925.
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