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Z w a n g s v e r s i c h e r u n g e n , die ebenfalls an den Arbeits-
vertrag anknüpften, Vorsorgen für Krankheit, Unfall und so fort
des Arbeiters schuf. Immer blieb jedoch der Gedankengang maß-
gebend, daß die individualistische Wirtschaftsverfassung beizubehal-
ten sei. Damit ist auch schon die
C. Kritik der bisherigen Sozialpolitik
gegeben. In dieser Form mußte die Sozialpolitik unzureichend blei-
ben. Und je mehr sie sich, namentlich nach dem Kriege (durch
Ausdehnung der Zwangsversicherung, durch Einführung des Kollek-
tivarbeitsvertrages und anderes) praktisch entwickelte, um so mehr
mußte sich infolge ihres formalistischen und zentralistischen Auf-
baues jener heutige Zustand herausbilden, den man mit Recht ganz
allgemein als eine „ K r i s e d e r S o z i a l p o l i t i k “ bezeichnet.
Die Krise äußert sich vornehmlich darin, daß die sozialpolitischen
Leistungen allmählich unverhältnismäßig teuer wurden. Die heuti-
gen Mißstände der praktischen Sozialpolitik sind: teure Verwaltung,
einseitige Klüngelwirt- / schaft der Parteien, Formalismus, Über-
bürokratisierung; und als Kehrseite: Demoralisierung (durch Vor-
spiegelung von Krankheit und so fort), Benachteiligung des redlichen
Arbeiters. Zu allen diesen und anderen Mißständen kommt noch,
daß die Sozialpolitik trotz unerschwinglich großer Kosten niemals
Durchgreifendes erreichen kann, sondern, gut oder schlecht, stets
Stückwerk bleibt. Eine andere Krise, vielleicht die schlimmste, liegt
endlich in der Ratlosigkeit der bisherigen Theorie selbst gegenüber
all den angedeuteten schweren Gebrechen der praktischen Sozial-
politik der Nachkriegszeit.
Wie verhielt sich denn die liberale Wirtschaftstheorie zur prak-
tischen Entwicklung, die durch die Sozialpolitik eingeschlagen wor-
den war? Die liberale Theorie Malthusens und Ricardos hat, wie
sich zeigte, jede Sozialpolitik glatterdings als unsinnig hingestellt,
Marx hat diese Anschauung bestätigt (praktisch lehnte daher die
Sozialdemokratie, ihrer Theorie getreu, bis gegen Ende des 19. Jahr-
hunderts die Mitarbeit an jeder Sozialpolitik ab) und auch die
Grenznutzenschule hat die Kluft nicht überbrücken können; der
Schwede Cassel, die meisten englischen und amerikanischen Wirt-