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Götter — die Vielheit göttlicher Wesenheiten, der Polytheismus
tritt hervor.
Nun gilt das uns von Thaies überkommene Wort: „Alles ist
mit Göttern erfüllt.“
Kommt es demnach zum Polytheismus erst, wenn das mystische
Leben nicht mehr rein herrscht und die Richtung auf die Welt
nimmt, so ist doch das Wesentliche, daß in dem sich vollziehenden
Übergang vom Mystischen zum Weltlichen und damit zum Ma-
gischen die mystisch-religiösen Kategorien es sind, nach deren Maß-
gabe der e i n e Seelen- und Weltgrund zuerst in viele göttliche
Teilmächte zerlegt wird.
Sind aber die Kategorien das Primäre, dann kann die Erfahrung,
das heißt die Analysis des Geistes und der Natur, nur besondernd,
konkretisierend wirken. Vor allem folgt daraus, daß die stoffliche
Natur stets nur religiös-kategorial vorgeformt, niemals als bloßer
Inbegriff von Sinneseindrücken, wie die naturalistische Mythen- /
forschung fälschlich annimmt, zur Geltung kommt. Um z. B. den
Gestirnen, der Erde, dem Frühling Göttlichkeit beizumessen, muß
1.
das mystische Gottesbewußtsein, als Kategorie, schon da sein
und muß 2. die kategoriale Auffassung der Einheit von Gott und
Welt wirksam sein. Nur wenn die Welt als in der Urgottheit befaßt
erkannt wurde — Kategorie der Einheit von Gott, Welt und
Mensch, „tat tvam asi“ — können auch Sonne, Mond, Erde als
Gottheiten genommen werden. Mit einem Wort, die religiösen
Kategorien müssen sich ausgewirkt haben, ehe Gestirnen, Himmel
und Erde Göttlichkeit zuerkannt werden kann.
(c)
Zu dem Angeführten kommt noch ein anderes Moment hinzu:
die s u b j e k t i v e n E r l e b n i s s e d e r M y s t i k e r u n d
M a g i e r i n i h r e m W e r d e g a n g , ihre Bilder und Gesichte.
Hier ist eine Quelle von Bildern und Zeichen, an die sich viele
Mythen und Riten schließen.
Nach allem ergeben sich die folgenden inneren G e s e t z e d e r
M y t h e n b i l d u n g :
Erstens.
Indem das Gotteserlebnis nach Maßgabe der mystisch-religiösen
K a t e g o r i e n auf die geistige und natürliche Welt angewendet
wird, entstehen die U r m y t h e n , die die Grundlagen aller wei-
teren Mythenbildung sind.