Previous Page  382 / 473 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 382 / 473 Next Page
Page Background

382

[347/348]

Die Macht, das will sagen, die Möglichkeit, die Freiheit, das göttliche

Leben in sich wiederherzustellen. So ist das Christentum kraft seiner

mystischen Wurzel eine Religion der geistigen Freiheit.

Wir gehören nicht zu jenen, welche behaupten, die Begriffe der geistigen Frei-

heit und Persönlichkeit seien der alten Welt unbekannt gewesen. Aus den älteren

Upanischaden, aus Platon (besonders im „Sophisten“) und anderen Mystikern

ließen sich leicht Belege für das Gegenteil beibringen. Wohl aber behaupten wir,

daß das Christentum die vollkommenste Entfaltung dieser Begriffe brachte. Das

liegt lehrgeschichtlich am Tage, folgt aber klar auch aus dem Wesen der Sache.

Je mehr eine Religion die Gottverwandtschaft: des Menschen und die darin

beschlossenen Begriffe des Gottesreiches, der Freiheit, des Wertes des / Menschen

zu ihrem Mittelpunkt hat, um so höher ist sie und um so reiner. Das Christen-

tum hat keinen anderen Mittelpunkt.

Das finden wir bei allen mystischen Theologen bestätigt, wie schon die frühe-

ren Beispiele zeigten und noch die folgenden zeigen sollen.

S y m e o n , d e r j ü n g e r e T h e o l o g e , einer der größten byzantini-

schen Mystiker des 11. Jahrhunderts, sagt in seinem Buch „Divinorum liber“:

„Wir werden Dir ähnlich als G ö t t e r Gott sehend.“ — „Derjenige, der alles

das verachtet, was den Augen begegnet, der Gottes Vertrautheit gewonnen hat,

ja besser auch s e l b s t G o t t genannt wird — wie wird der wohl irgend wel-

chen Ruhm suchen wollen aus Dingen, die unter ihm liegen“

1

?

In Mechthilds „Fließendem Licht der Gottheit“ spricht Gott: „Frau Seele, ihr

seid so sehr mit m e i n e r N a t u r v e r e i n t , daß nichts zwischen euch und

mir sein kann. Es ward kein Engel je so hehr, daß dem eine Stunde verliehen

würde, was euch ewig gegeben ist. Darum legt von euch Furcht und Scham und

alle auswendige Tugend. Nur allein die ihr binnen euch tragt von Natur, die

sollt ihr ewiglich empfinden wollen: das ist euere .. . grundlos Begierde (nach

Gott). Die will ich ewiglich erfüllen mit meiner endlosen Freigebigkeit.... Da

geschieht nun eine selige Stille, da wird ihr’ beider Wille“

2

.

Die Kategorie der U n s t e r b l i c h k e i t übergehen wir hier,

da früher schon das Nötige darüber gesagt wurde

3

.

C.

A b g e l e i t e t e K a t e g o r i e n : S c h ö p f e r t u m , E r -

l ö s u n g , L i e b e , F r i e d e , S t e l l v e r t r e t u n g

( C o r p u s C h r i s t i M y s t i c u m )

Was von den ursprünglichen Kategorien gilt, gilt auch von den

abgeleiteten. Wir finden sie im Christentum als ein organisches Cor-

pus entwickelt.

1

Angeführt bei Wilhelm Oehl: Mechthild von Magdeburg: Das fließende

Licht der Gottheit, Kempten 1911, S. 36. (Sperrungen von mir.)

2

Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit, Bd 1, S. 44,

bei Oehl S. 60.

3

Vgl. oben S. 92 ff. und öfter.