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lösung wird dadurch zu einer mehr naturhaften, einer solchen vom
sinnlichen Übel. — Auch dem b u d d h i s t i s c h e n Erlösungs-
begriff haftet dieser Mangel noch insofern an, als er eine Erlösung
vom Leiden erstrebt
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und von dem endlosen Kreislauf der Geburten
(anders, sofern er das Nirvâna als Himmelreich verstand).
Anders das Christentum. Das Wirken des leidenden und sterben-
den, von den Jüngern in wahrem Schauen als auferstanden und ver-
klärt erlebten, geschichtlichen Christus ist ein g e i s t i g e s ; das
Leiden ist nicht nur zu fliehen, es dient auch der Läuterung; / der
Kreislauf der Geburten fällt als Wahn dahin. Der Befreiungs- und
Erlösungsbegriff des Christentums dreht sich einzig und allein um
die innere Erneuerung, um die Überwindung der Gottentfremdung
des Menschen. Sie ist so sehr eine geistige, daß sie ferner ohne eigene
geistige S e l b s t t ä t i g k e i t des einzelnen Menschen nicht zu
denken wäre und gar nicht zur Geltung käme. Wenn es heißt, Chri-
stus sei „für unsere Sünden gestorben“, so darf dies nicht, wie bei
Anselm von Canterbury (Ende des 11. Jahrhunderts), quantitativ
und juristisch verstanden werden, indem bei Gott ein Quantum
Verdienst Christi gegen ein Quantum Mißverdienst der sündigen
Menschen zu setzen und juristisch abzuwägen wäre, vielmehr rein
geistig und ontisch, indem das r e a l e V e r h ä l t n i s d e s M e n -
s c h e n z u G o t t durch Christi gesamtes Leben und Wirken (nicht
nur durch dessen Leiden, Sterben und Verklärung) verändert gedacht
und auf diesem Boden der e i g e n e n A n s t r e n g u n g des Men-
schen eine andere Voraussetzung als früher geboten wird.
Was bedeutet aber hier „das reale Verhältnis zu Gott“? — so wird
man fragen. Dies näher zu erörtern, würde allerdings auf Gebiete
führen, welche der heutigen Zeit allzusehr im Dunkel liegen. Doch
möge ein schlichter Vergleich einen Hinweis geben, den jeder weiter-
verfolgen kann. Es liegt am Tage, daß schon das Erscheinen großer
Geister inmitten eines Volkes dieses innerlich hebt und sein reales
Verhältnis zu geistigen Dingen verändert. Platon und Aristoteles,
Polyklet und Pheidias, Aischylos und Sophokles hoben die Griechen
durch ihr bloßes Erscheinen in deren Mitte auf eine höhere geistige
Ebene, gleich wie Shakespeare die Engländer, Leibniz und Kant,
Fichte und Schelling, Bach und Mozart, Goethe, Schiller und die Ro-
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Nach den Sätzen vom Leiden, siehe oben S. 112 f.