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gebe ich euch, daß ihr euch untereinander liebet, wie ich euch geliebt habe ..
Daher es heißt: „So wir uns untereinander lieben, so bleibet Gott in uns“
2
.
„Wer liebhat, der ist von Gott geboren“
3
.
Als Gebot ist die Liebe das vornehmste, als religiöser Urbegriff
oder Kategorie gefaßt jedoch nicht ursprünglich. Denn es leitet sich
erst vom Innewerden der Einheit des Menschen mit Gott, erst von
dem erweckten Bewußtsein der Gottverwandtschaff der mensch-
lichen Seele ab.
Hier überschreitet das Christentum abermals alles, was andere
Religionen erreichten. Wohl lehrt bereits die altindische Mystik
ähnliches in der berühmten Erklärung Yâjnavalkyas an seine Gat-
tin Maitreyi „Nur um des Selbstes willen — das ist um Gottes willen
— ist der Gatte lieb"
4
; aber dieser mystische Erkenntnisblitz einer
absoluten Wahrheit, ebenso wie die „Honiglehre“
5
, blieb vereinzelt.
Diese Liebeslehre wurde nicht / einmal in den Upanischaden durch-
geführt, nicht mit deren Gottesbewußtsein und der Gotteslehre in
gegliederte, stetige Verbindung gebracht, geschweige denn im Ge-
samtsystem der Religion. Daher ging sie in der brahmanischen Reli-
gion nicht voll in das r e a l e V e r h ä l t n i s des Menschen zu
Gott ein, wurde nicht gestaltend und bestimmend dafür. Um das zu
erreichen, bedurfte es noch einer anderen Lehre und der Kraft ihrer
Durchführung, jener, welche in den Worten sich bekundet: „Gott ist
Geist und die ihn anbeten, die müssen ihn im Gebet und in der
Wahrheit anbeten.“ Nur dem Geist ist die Liebe wesensgemäß —
aus Rückverbundenheit und Gezweiung! Auf dem polytheistischen
Grund der Upanischaden, wie auch der späteren indischen Bhakti-
lehre war dieses Ziel nicht voll zu erreichen.
Steht einmal die Gottesliebe vor der Menschenliebe, dann ist kein
rechtes Menschenwerk möglich ohne die beiden.
„Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete, und hätte der Liebe
nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.
Und wenn ich weissagen könnte, und wüßte alle Geheimnisse und alle Er-
1
Mattheus 22, 37.
2
Johannes 4, 12.
3
Johannes 4, 7.
4
Und so weiter, siehe oben S. 128.
5
Brihadâranyaka-Upanishad 2, 5, 1 ff.: „Diese Erde ist aller Wesen Honig,
Dieser Erde sind alle Wesen Honig...“ (1). „Dieses Selbst ist aller Wesen Honig,
diesem Selbste sind alle Wesen Honig...“ (14), deutsch von Paul Deussen. Die-
ser wunderbaren Honiglehre haben wir nichts Gleiches an die Seite zu setzen.