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kenntnis, und hätte allen Glauben, also daß ich Berge versetzte, und hätte der
Liebe nicht, so wäre ich nichts.
Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe, und ließe meinen Leib bren-
nen, und hätte der Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze“
1
.
„Die Liebe höret nimmer auf, so doch die Weissagungen aufhören werden, und
die Sprachen aufhören werden, und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser
Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk. Wenn aber kommen
wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören“
2
.
Wer die Einheit mit Gott in sich findet, hat wie die Liebe so auch
den i n n e r e n F r i e d e n gefunden.
„Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich
euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht“
3
.
„Solches habe ich mit euch geredet, daß ihr in mir Frieden habet. In der Welt
habet ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden“
4
.
4. Corpus Christi Mysticum
Wir schließen hier noch einen anderen, abgeleiteten Begriff des
christlichen Denkens an, der mangels kategorialen Verständnisses un-
seres Erachtens bisher im Schatten stand.
/
Man kann aus dem ganzheitlichen Denken heraus alle die ange-
führten Lehrbegriffe des Christentums im Hinblick auf die Wirk-
samkeit ihres Gründers zusammenfassen in den einen Begriff des
Corpus Christi Mysticum. Wird dieser Begriff in seiner ganzen Tiefe,
das will sagen ganzheitlich-kategoriengemäß — nach dem Satz „Das
Ganze wird in seinen Gliedern geboren“ — verstanden, dann folgt
aus dem soeben erklärten Begriff der Stellvertretung des niederen
und kranken Gliedes durch das höhere und gesunde alles, was die
mystische Erfahrung erfordert und Licht in das Dunkel dieses Be-
griffes bringt: Wird das Ganze in den Gliedern dargestellt, so kann
es auch von sich sagen: „ . . . dann bin ich mitten unter euch“ —, wo-
bei das Eigenleben des Gliedes aufrechterhalten bleibt.
Von der abgeleiteten Kategorie der A u f g e h o b e n h e i t i n G o t t —
erscheinend als Schicksal, Vorherbestimmung — wurde schon früher gezeigt
5
, wie
das Christentum weder in den Fehler verfällt, die menschliche Tätigkeit völlig
auszuschalten (Fatum) noch in den entgegengesetzten, alles dem Menschen allein
zuzuschreiben (Autarkie), vielmehr ein Ineinander göttlicher Befaßtheit wie eige-
1
Korintherbrief 13, 1 bis 3.
2
Korintherbrief 8 bis 10.
3
Johannes 14, 27.
4
Johannes 16, 33.
5
Siehe oben S. 122 f.