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gleichsam esoterischen Inhalt des Christentums. Wir sagen „gleich-
sam“, weil der Form und Organisation nach Geheimlehren im Chri-
stentum bekanntlich nicht bestehen. Aber der Tatsache nach sind die
hohen mystischen Lehren den dazu nicht Veranlagten unzugänglich,
wie denn schon Origenes zwischen der praktischen Religion der
Menge und der philosophischen Wahrheit, dem „leiblichen“ und
„geistigen“ Christentum unterschied
(
χριστιανισμοί; σωματικός
und
πνευματιχός)
1
.
Da nun diese Menschen selbstverständlich von der Religion nicht
ausgeschlossen sind, entsteht hier eine zweite Schichte der Religions-
übung, eine Schichte, welche teils von schlichter Einfalt und innigem
Verlangen, teils von dem bloßen Bedürfnis, nicht ausgeschlossen zu
sein aus dem religiösen Kreis, teils sogar von geringeren Beweggrün-
den bestimmt wird.
Im ganzen aber ist diese Schichte von dem Streben sittlicher An-
wendung der Religion und von äußeren Sinnbildern beherrscht. Al-
lerdings entartet sie auch leicht in Phantastik, Aberglauben und so-
gar in leere Äußerlichkeit, Heuchelei, Verkehrtheit — man denke
etwa an die Geschichte von jenem unteritalischen Wegelagerer, der
vor einem Raubüberfall zur Jungfrau Maria im voraus um Verge-
bung betet. Auch die äußerliche, buchstabengläubige Orthodoxie
möchte hierher zu rechnen sein.
Wir dürfen jedoch diese Schichte des religiösen Lebens unangese-
hen solcher Entartungen die schlichte Frömmigkeit nennen. Wir
können sie auch als exoterische bezeichnen.
Die Bezeichnung als schlichte Frömmigkeit will insofern keine
Herabsetzung sein, als sich dieser Unterschied notwendig in jeder
Religion findet, ja sogar innerhalb der höheren religiösen Persön-
lichkeit selbst. Die schlichte Frömmigkeit ist nämlich auch dieser
insofern unentbehrlich, als bei der konkreten Ordnung des / Got-
tesdienstes und der sittlichen Anwendung der Religion auch äußere
Elemente der geschichtlichen Überlieferung und der gesamten über-
kommenen, stets Sinnbildliches enthaltenden Kultur mitsprechen
und kaum je gänzlich ausgeschaltet werden können.
Indem wir also von einer zweiten Schichte der Frömmigkeit spre-
chen, haben wir eine geschichtlich wichtige Unterscheidung im Auge.
1
Vgl. Friedrich Max Müller: Theosophie, deutsch von Moritz Winternitz,
Leipzig 1895, S. 444 und 474 f.