[358/359]
393
ner Tätigkeit erkennt und so weder die Gnade durch die Freiheit auslöscht, noch
die Freiheit durch die Gnade.
D. S i t t l i c h k e i t
Alle religiösen Werke, welche aus den soeben behandelten Kate-
gorien im Christentum folgen, begründen eine höhere Sittlichkeit
als die Welt bisher kannte. Denn mit der Geistigkeit Gottes findet
das Opferblut ein Ende, mit seiner Einzigkeit und Väterlichkeit der
Krieg der Stammesgötter, welchen auch die ihnen angehörigen Men-
schen führen mußten; mit seiner Vollkommenheit erhielt das Stre-
ben des Menschen nach Gottähnlichkeit und Rechtfertigung eine
früher nicht erreichte sittliche Richtung; aus der zentralen Stellung
der Gottverwandtschaft, der Gotteskindschaft, folgen Gottes- und
Menschenliebe; aus der Sicherheit der Unsterblichkeitsverheißung
folgen der Wert des Lebens und (im Vereine mit der Gottesver-
wandtschaft) der Wert des Menschen; aus beiden folgt innerer Friede,
aus höchster innerer Freiheit die Kraft der Weltüberwindung ohne
Weltverachtung und Welthaß.
Damit ist die sittliche Richtung, welche die christliche Religiosität
einschlägt, von den Kategorien aus gekennzeichnet und das Höchste
erreicht, dessen der menschliche Geist fähig ist.
/
Was bei anderen Religionen einseitig hervortritt, wie z. B. Mitleid
und Geschöpfesliebe im Buddhismus, ist hier harmonisches Glied
eines Ganzen. Nihilistischer Pessimismus mit seinem Welthaß ist
grundsätzlich ebenso vermieden, wie oberflächlicher Optimismus mit
seiner Weltbefangenheit. (Daß in diesen Punkten auch Irrungen im
Laufe der Geschichte des Christentums vorkamen, geht auf Rechnung
der menschlichen Gebrechlichkeit.)
Das Christentum lehrt, so dürfen wir es ganzheitlich ausdrücken,
in seiner Ethik die A l l - R ü c k v e r b u n d e n h e i t . Alle We-
sen sind nicht nur in ihrer Gemeinschaft, sie sind auch, und vorerst,
in Gott befaßt, rückverbunden. Damit kommt der Grundsatz
„Gott wird durch Gott erkannt in der Seele“ auch in der Sittenlehre
zur Geltung.
Da nun alle Wesen, die geringen und die hohen, die guten und die
bösen in Gott rückverbunden sind, verstehen wir daraus auch das
große Wort: „Gott läßt seine Sonne scheinen über Gerechte und Un-