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Warum sich die griechisch-römische Welt trotz blutiger Verfol-
gung der Christen durch die äußerlich unbesiegliche, staatliche Macht
langsam, aber unaufhaltsam zum Christentum bekannte, warum die
Germanen das Christentum so leicht annahmen, liegt einzig und
allein in der ungeheuren inneren Überlegenheit des Christentums
über die mythologischen Religionen. Das übersieht die neuzeitliche
Kritik nur zu sehr.
Von einer meistens unbeachteten Seite her wirft ein Bericht des Mönches
B e d a über die Bekehrung des Angelnkönigs Edwin im Jahre 625 überraschen-
des Licht auf die Überlegenheit des Christentums. Als Edwin mit den Seinen
darüber beriet, ob man die neue Lehre annehmen solle, erklärte einer der Edlen:
„Wenn ich . . . das Leben der Menschen hier vergleiche mit dem, was uns unsicher
in der Zukunft liegt, so erscheint es mir also: Du sitzest beim Mahle mit Deinen
Häuptlingen und Mannen in der Winterszeit, auf dem Herd, in der Mitte flammt
das Feuer und warm ist die Halle, draußen aber rast überall der Sturmwind mit
Kälte, Regen und Schnee; dann kommt ein Sperling herein und fliegt schnell
durch die Halle, zu einer Öffnung dringt er ein, zu der anderen verschwindet er
gleich darauf. Während er hier drinnen ist, wird er durch das Unwetter nicht
getroffen, aber den kurzen Raum des Behagens durchflattert er im Augenblick,
schnell kehrt er aus dem Winter in den Winter zurück und entschwindet Deinen
Augen. So erscheint das Leben der Menschen hier erträglich; was aber darauf folgt
oder was vorherging, das wissen wir gar nicht. W e n n a l s o d i e n e u e
L e h r e e i n e s i c h e r e K u n d e d a v o n b r i n g t , so meine ich, muß
man ihr mit Recht folgen“
1
.
Das ernste, grüblerische Gemüt dieses wunderbaren heidnischen Romantikers
vor mehr als tausend Jahren sprach eine Wahrheit aus, die wir Heutigen leicht
übersehen: gegenüber den fahrigen, zerflatternden Göttersagen mit ihrer Un-
bestimmtheit und Mehrdeutigkeit mußte die bestimmte, einheitliche Glaubens-
lehre wie eine Erlösung wirken, und ganz besonders tat sie das durch ihre sichere
U n s t e r b l i c h k e i t s v e r h e i ß u n g , welche das verdüsterte heidnische
Gemüt erhellte.
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Worin bestand nun die weltumgestaltende Wirkung des Christen-
tums? Ist diese Frage beantwortet, dann ist schon eine Grundlage für
die Beurteilung seines geschichtlichen Wesens gewonnen.
Wir heben als Hauptpunkte hervor: die Wandlung des Gottes-
bewußtseins, des Kultus und der Sittenlehre.
1.
Als unmittelbar Entscheidendes zeigte sich schon die wunder-
bare Läuterung und Erhebung des Gottesbewußtseins, welche im
Christentum von Anbeginn lag und der verwilderten, ja geradezu
chaotisierten heidnischen Religiosität gegenüber Unendliches bedeu-
tete. Es ist dies ein Punkt, den man gar nicht genug beachten, nicht
hoch genug einschätzen kann. Wir erinnern vor allem an die, aus der
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1
Deutsch von Gustav Freytag: Bilder aus der deutschen Vergangenheit,
3. Aufl., Leipzig 1861—62, Kapitel 4.