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das V e r f a h r e n der Gesellschaftslehre die Folgerungen aus
dieser Auffassung der „Beziehung“ gezogen werden! Diese Folge-
rungen bestehen aber nicht etwa darin, daß man nun nicht mehr
von der Erfahrung ausginge (wie von Wiese gegen mich andeutete)
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.
Von der Erfahrung geht meine Lehre, wie ich mir einbilde, viel ge-
treuer, viel wesenhafter aus als die irgendeines Empiristen. Der Empi-
rist bleibt nur an der Oberfläche und Äußerlichkeit der Erfahrung
haften, nämlich an dem, was die Sinne als Einzelnes zeigen, während
der Begriff der „Ganzheit“, der Begriff der „Gezweiung“ vom ersten
Seingebenden und Aufbauenden ausgeht. — Jene Folgerungen beste-
hen, wie oben angedeutet, vielmehr darin: Das, was nicht von sich
aus Wirklichkeit hat, auch methodisch als ein solches zu behandeln,
welches erst durch sein Zum-Bestandteil-Werden die Wirklichkeit
erhält — nämlich die Wirklichkeit als Glied, als Glied eines Ganzen!
Im G e i s t e u n d i n d e r G e s e l l s c h a f t i s t n u r d a s ,
w a s G l i e d e i n e s G a n z e n w u r d e .
Nach dem bisherigen Stande der Verfahrenlehre und der Logik
seit Aristoteles ist mir kein anderer Begriff bekannt, der jenen Grund-
und Urtatbestand der gesellschaftlichen Erscheinungen: Daß ein
Etwas seine Wirklichkeit nicht von sich aus, sondern stets nur in
Gegenseitigkeit habe — zu bestimmen imstande wäre, als der Begriff
des „G a n z e n m i t s e i n e n G l i e d e r n“. Denn nur in dem
„Ganzen“ ist das Einzelne zwar selber eine Wirklichkeit, aber nicht
von sich aus, nicht autark, sondern: Als Glied mit anderen Gliedern.
Ich habe in mehreren meiner Schriften dieses o n t o l o g i s c h e
Verhältnis zweier Erscheinungen, das in ihrem Aneinander-Werden
liegt, näher bestimmt, als die „Mit-Ausgegliedertheit“ der Glieder
untereinander, die man als „G e z w e i u n g“ oder Gemeinschaft
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Siehe Verhandlungen, S. 128, 2. Absatz: „unrealistisch“, „Prädestinationslehre“;
3. Absatz: „spekulative Glaubensfigur“, „willkürliche Idealisierung“; 4. Absatz: „ u n h e i l -
v o l l e r F a n a t i s m u s , d e r n u r a n b e t e n o d e r v e r d a m m e n k a n n “
(von mir hervorgehoben) — das alles legt von Wiese dem Universalismus zur Last, während
die Beziehungslehre eine „Methode der Beobachtung“ nach dem Vorbild der Naturwissen-
schaften sei (S. 129). — Es ist immer dasselbe Bild! Die Individualisten sind blind für
die Unfähigkeit ihrer Begriffe, an das Leben, an die Wirklichkeit heranzukommen und
glauben noch dazu, ihre Wertungen seien keine Wertungen, ihr Fanatismus sei keiner,
sondern selbstverständlich.