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a l s s o l c h e s h a t k e i n D a s e i n “ (Bd 9, 62). Aber es gilt
der weitere Satz, der der Schöpfung den Stempel aufdrückt: Alles
auf Erden ist — es war der Ausgangspunkt unseres ganzheitlichen
Weltbildes — nur als Glied eines Ganzen. Denn: „D a s G a n z e
w i r d i n d e n G l i e d e r n g e b o r e n “ (Bd 9, 62).
Erst durch diese erhält die Ganzheit ihr „Dasein“, wogegen das
Ganze an sich für die Glieder ein S e i n h ö h e r e r O r d n u n g
ist, nicht ein „Dasein“, sondern ein „Vorsein“. Darum gibt es weder
die Symphonie noch das Drama, noch den Staat, noch die mensch-
liche Gesellschaft als solche. Sie alle werden erst in den Gliedern ge-
boren: Erst die einzelnen Töne, die einzelnen Gestalten des Bühnen-
stückes, die einzelnen Funktionäre und Bürger des Staates haben ein
sinnfälliges Dasein. Aber auch das Pferd oder der Kristall sind als
solche nirgendwo zu finden. Es sind immer nur Teile, die sich als
Erscheinung offenbaren: die Außenoberfläche, einzelne Organe,
Zellen und Teile eines Körpers. Nicht einmal die Mähne eines Pferdes
als solche ist unseren Augen sichtbar; was wir tatsächlich sehen, sind
nur einzelne Haare der Mähne. Und doch wissen wir, daß wir ein
Pferd mit einer Mähne vor uns haben. Denn a l l e s , w a s w i r
e r k e n n e n , e r k e n n e n w i r a l s G l i e d e i n e s
G a n z e n u n d d a m i t a u c h d i e s e s ! Denn das Ganze
wird in den Gliedern geboren.
Darum wird das Ganze auch in den Gliedern erkannt! Darum kann
auch Gott nicht erkannt
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, sondern nur erlebt werden. Denn Gott ist
für das Geschöpf immer Ganzheit, sein göttliches Leben steht in
einem Lichte, in das niemand hinzutreten kann. In sich selbst aber ist
dieses innergöttliche Leben gleichsam eine „Ausgliederung höchster
Ordnung“, auf welche die Dreifaltigkeitslehre einen Hinweis gibt,
„die gewissermaßen als die K a t e g o r i e n l e h r e d e s i n n e r -
g ö t t l i c h e n L e b e n s bezeichnet werden darf“ („Schöpfungs-
gang des Geistes“, Bd l O , 127)
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. Kein Glied kann die Ganzheit als
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„Erkennen“, das heißt hier: als Gegenstand erkennen, wogegen Meister Eckehart
dieses „Erkennen“ als ein geistiges „Erkennen“ versteht, als ein inneres Erleben, wie es
dem Menschen zusteht, nicht aber dem Holze.
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Daß die ganzheitlichen Grund-Kategorien dazu eine auffallende Entsprechung zeigen
und der Trinitätslehre daher eine gewaltige Stütze bieten können, mag hier wenigstens ange-
deutet werden.