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mus den seichten Rationalismus, Empirismus und Utilitarismus des
englisch-französischen Denkens überwunden hatte, wurde der erste,
der größte Schritt zu dieser Sendung getan: die Geburtsstunde schlug,
als Fichte in seinem Naturrecht 1796 auf streng erkenntnistheoretischer
(nicht auf metaphysischer!) Grundlage den Begriff des autarken, des
absoluten Individuums vernichtete. „Sollen Menschen überhaupt sein,“
sagt Fichte in erkenntnistheoretischer Erwägung, „so müssen mehrere
sein. Sobald man den Begriff des Menschen zu Ende denkt, kommt man
vom Denken des Einzelnen auf das Denken vieler“
1
. Mit diesem
Gedankengange war aller Individualismus vertilgt, mit ihm war das
Individuum aus aller (geistigen) Isolierung herausgehoben und
hineingestellt in die lebendige bildende Kraft des Ganzen — als eines g
e i s t i g e n Ganzen. Das war die größte Leistung des deutschen Geistes
in der Geschichte.
Mit jenem Gedankengange war auch die Verbindung zum
staatswissenschaftlichen Denken des Platon und Aristoteles
wiederhergestellt, war an die „goldene Leiter der Weisen“
angeschlossen; war etwas ganz Neues (und doch so Altes!) in die
europäische Geistesentwicklung eingeführt worden. Wenn man auf
solche Wandlungen des Völkerdenkens hinblickt, bekommt man
wieder das Vertrauen in den Lauf der Weltgeschichte. Die zerstörte
Wahrheit hat die Kraft in sich, immer wieder zu erwachen und neu zu
erstehen. Bedenkt man diesen Grundzug jener Zeit, so versteht man,
was Eichendorff damals schlicht und ergreifend aussprach:
„Aber solange noch kreisen
Die Stern’ um die Erde
rund,
Tun Herzen in neuen
Weisen Die alte Schönheit
kund.“
Ja, der alte Gott lebte noch, ein neues Tagewerk konnte beginnen.
Schelling, Hegel, Schleiermacher, Adam Müller, Krause, Stahl und
manche andere haben das Werk Fichtes weitergeführt und eine
universalistische Staats- und Gesellschaftslehre ausgebildet.
Wie entstand sie? Nicht geradewegs von der Philosophie her,
sondern auf dem bemerkenswerten Umweg der Romantik. (Der
1
Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der
Wissenschaftslehre, 2 Teile, Jena und Leipzig 1796, 2. Aufl., Leipzig 1922.